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Inkota Tagung oder „Wie Bäume zu Commons werden“

Die Inkota Tagung fand zu einer Zeit statt, zu der in Stuttgart die Revolution ausgebrochen zu sein scheint: nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ sondern „ganz normale Leute“, die „bürgerliche Mitte“, Banker und PensionistInnen kämpfen gegen das Bahnhofsprojekt. Und das war natürlich ein Gesprächsthema bei der Tagung, solche Protestbewegungen rufen Erstaunen, Bewunderung und Solidarität hervor. Und die Bäume des Schlossgartens in Stuttgart wurden schließlich zum Exempel dafür, wie Commons entstehen können.

Aber von Anfang an:

Silke Helfrich begann die Veranstaltung mit dem hübschen Märchen über die kleinen Leute von Swabedoo, das eine gute Einführung ins Thema Gemeingüter darstellt. Dann folgte mein Vortrag, der recht gut ankam, aber – wie könnte es anders sein – auch viele Fragen und Diskussionsstoff aufwarf. Nachmittags dann der Workshop mit Beatriz Busaniche. Beatriz kommt aus Argentinien und arbeitet für Vialibre (leider nur auf spanisch, hier die Entsprechung auf deutsch), sie ist so etwas wie eine „Botschafterin“ für Freie Software. Sie spielt eine Vermittlerrolle zwischen den „Computerfreaks“ und den Menschen, die sich für andere Gemeingüter einsetzen und versteht es ausgezeichnet, die Gemeinsamkeiten klar zu machen zwischen Freier Software, Ackerland und Biodiversität.

Natürlich konnte sie das auch nicht immer und sie beginnt ihre Ausführungen mit einer Anekdote darüber, wie alles vor 6 Jahren anfing: Sie wurde eingeladen zu einer Konferenz über Biodiversität nach Mexiko und sie hat sich darüber gewundert und noch einmal nachgefragt, ob es sich dabei nicht um eine Verwechslung handelte – sie konnte sich nicht vorstellen, was sie dort sollte und die Veranstalter wussten es offensichtlich auch nicht so ganz genau. Aber im Verlauf der Konferenz wurde es allen klar: Beide – und das gilt auch für alle anderen sozialen Bewegungen haben das gleiche Ziel, nämlich Selbstbestimmung, die Kontrolle über wichtige Lebensgrundlagen und -bedingungen.

„Wer die Software kontrolliert, kontrolliert unsere Kommunikation und unser Gedächtnis“ sagt sie. Diese Macht darf man nicht einer privaten Person übertragen und auch nicht einem anonymen Staat. Es ist wichtig, dass die demokratische Kontrolle über die Software erhalten bleibt, dafür setzen sich die Free Software Foundation und Vialibre ein. Microsoft hat auf jeden Computer, der mit Windows läuft, direkten Zugriff, Mikrosoft bestimmt, welche Filme wir sehen, welche Musik wir hören dürfen, wann wir uns einen neuen Computer kaufen müssen, weil neue Betriebssysteme nicht mit den alten Prozessoren funktionieren. Google bestimmt, was wir im Internet finden und was nicht.

Das Buch von Beatriz (und die Übersetzung von Silke) wurde übrigens heute (Montag) in der Böll-Stiftung in Berlin vorgestellt und Silke wird welche mitbringen zum Symposium in Wien am 15. Oktober (hoffentlich 😉 ).

Am Abend dann viele Gespräche und ich bekomme ein wenig Einblick in die gesellschaftlichen Entwicklungen im Osten Deutschlands seit der „Wende“. Sonntag wurde auch der 20. Jahrestag der Wiedervereinigung gefeiert. Die TeilnehmerInnen an der Tagung sind sich einig, dass es keinen Grund zum Feiern gibt. „Es war von Anfang an eine Kolonialisierung“ habe ich da gehört und sie haben alles zerstört, was ihre Macht geschwächt und unsere Position gestärkt hätte. An allen wichtigen Positionen sitzen Leute aus dem Westen. Und Heike meint, die Erzählung von den Gemeingütern wecke Assoziationen zu „früher“, zur Zeit der DDR und die Leute verwechseln das mit Gemeingütern. Das vergemeinschaftete Eigentum in der DDR, meinen sie, war so etwas wie ein Niemandsland. Ich glaube ja, dass es oft auch von den politischen Eliten als Privateigentum angeeignet wurde. Ich war natürlich nicht dabei, aber damals, 2005, als wir mit Leuten aus den „neuen Mitgliedsländern“ sprachen, waren diese zumindest sehr skeptisch gegenüber staatlichem Eigentum und eher für Privatisierung.

Nach meinem Vortrag am Vormittag jedenfalls ist die Frage nach der Rolle des Staates ganz massiv aufgetaucht und wir haben beschlossen, bei der Abschlussdiskussion am Sonntag darauf noch näher einzugehen. Mir wird in diesen Gesprächen auf einmal bewusst, dass ich nicht sicher sein kann, was Staat für die Menschen hier bedeutet, in welche Fettnäpfchen ich möglicherweise mit meinen Ausführungen treten könnte und habe etwas gemischte Gefühle am Sonntag früh.

Rainer Rilling von der Rosa Luxemburg Stiftung macht den Anfang. Er vertritt – wenig überraschend – eine neomarxistische Staatstheorie: „den Staat“ gibt es nicht, sondern verschiedene Staatsprojekte, der Staat ist kein neutraler Akteur. Daran kann ich gut anschließen, aber zuvor kam noch die höchst spannende Ausführung über die Stuttgarter Bäume, denn die eigneten sich wirklich exzellent für seine Absicht. Rainer meinte nämlich, anstelle des Staates sollten wir den Begriff des „Öffentlichen“ wieder stark machen und genauer bestimmen und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen „öffentlichen Gütern“ und Gemeingütern ausbuchstabieren. Und er machte dies gleich vor – an Hand des Stuttgarter Beispiels. Der Schlossgarten und die Bäume dort sind formal im Besitz der Stadt, also ein öffentliches Gut, vorher und auch jetzt noch. In dem Augenblick, wo sie gefällt werden sollten (und zum Teil ja schon sind) – und vor allem auch in Zusammenhang mit dem umstrittenen Bahnhofsprojekt – werden sie pötzlich Commons. Die Menschen reklamieren sie für sich, sie bekommen einen hohen symbolischen Wert für die Kontrolle der Menschen über ihre Stadt. Sie werden zum Symbol des Widerstandes gegen ein Projekt, das eine Mehrheit der BewohnerInnen Stuttgarts nicht will und plötzlich beginnen die Menschen Verantwortung zu übernehmen, und Ansprüche auf einen Besitz zu reklamieren, der ihnen vorher vielleicht nicht einmal bewusst war.

Vieles wird hier deutlich: es hängt nicht von der juridischen Eigentumsform ab, ob etwas ein Commons ist. In dem Fall waren die Bäume schon davor ein öffentliches Gut, aber die Menschen hatten keinen Grund gehabt, sich speziell darum zu kümmern, das erledigte, so meinten sie, die Stadt. Aber diese hat sich schlecht darum gekümmert, zumindest nich im Sinn eines Großteils der Stuttgarter, sie hat die ungeschriebenen, aber im Gefühl – und vielleicht auch im alten, unbewussten Wissen – der Menschen verankerten, Regeln nicht eingehalten. Und im Augenblick der Bedrohung haben sich die Menschen die Bäume als Commons angeeignet. Gemeingüter muss man herstellen, sie entstehen durch Aneignung, unabhängig von formalen Eigentumsverhältnissen. Man bemerkt sie oft erst, wenn es zu spät ist, wenn sie verloren, oder zumindest bedroht sind. Und sie haben auch eine wichtige soziale Funktion, sie verbinden Menschen rund um ein gemeinsames Interesse und Ziel – sie verändern die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen und die Identität der Menschen. Auch für diese gilt, was für die Uni-BesetzerInnen galt: auch wenn dieser Kampf einmal vorbei sein wird, mit welchem Ausgang auch immer, die Menschen, die dabei waren, sind nie wieder die gleichen wie zuvor.

Die Politiker verstehen von alledem, was hier passiert nichts. Aber auch so manche Politikwissenschaftler verstehen nicht worum es geht, z.B. Dieter Fuchs im Standardinterview: „Das sind Menschen, denen es finanziell gutgeht und die ganz klar und berechnend sagen: Dieses Großprojekt bringt für mich keine Vorteile, also engagiere ich mich dagegen.“ Auch der Demonstrant ist für ihn ein kühl berechnender Homo oecomonicus – aber das „davon habe ich keinen Vorteil“ gegen die Nachteile und Unbequemlichkeiten dieser Proteste aufzuwiegen, diese Kosten-Nutzen-Rechnung geht nicht auf, nicht aus der Sicht des nutzenmaximierenden Individuums.

Das schaut auch nicht gerade nach klarer Berechnung aus:

Etwas anderes ist passiert, etwas wofür die Apologeten des Marktes keine Worte haben: die Menschen in Stuttgart sind zu Commonern geworden. Es geht ihnen nicht um ökonomischen Nutzen, „es geht doch schlicht und einfach um die Frage: WEM GEHÖRT DIE STADT.“ (Winfried Wolf in seiner Rede vom 3.9.2010). Es geht um Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für die Menschen, die in dieser Stadt wohnen.

Die Politiker meinen, sie hätten die besseren Argumente, aber sie hätten sie nicht gut genug erklärt (das klingt sehr ähnlich wie das Argument, man müsste den Menschen die EU nur besser erklären). Die Menschen hätten nicht verstanden, dass die Region um Stuttgart dadurch als Standort aufgewertet würde. Aber die Menschen verstehen sehr wohl, es geht ihnen gerade nicht um die „Aufwertung“ des Standortes, um die Verbesserung der kapitalistischen „Verwertbarkeit“, es geht um Lebensqualität und Kontrolle über die Lebensbedingungen. Es geht um die Frage, wofür öffentliche Mittel ausgegeben werden, für einige Minuten weniger Fahrzeit, für Prestigeprojekte und „hochwertige“ Immobilien oder für den Erhalt der Nebenbahnen, für Soziales, Bildung und Gesundheit.

Den Verfechtern des Projektes aus Politik und Wirtschaft, so Winfried Wolf weiter, geht es

„seit einem Dreivierteljahrhundert um das Ziel der autogerechten Stadt, der auf Auto und schnellen Kommerz zugerichteten Stadt. Es ist keine Stadt für die Menschen. Keine Stadt für unsere Kinder. Keine Stadt, in der Kultur, Lebensfreude und Erholung ihren Stellenwert, die großen Plätze, den öffentlichen Raum bestimmen. Nein – PLATZ DA: Da wird Platz geraubt, werden Plätze und öffentlicher Raum zweckentfremdet für Straßen, für Banken, für Kommerz.“

Es geht also nicht darum, dass die „dummen Massen“ nicht verstehen würden, dass die klugen PolitikerInnen nur das Beste für sie wollen. Eher ist es umgekehrt, die Politiker haben jedes Gefühl für die Bedürfnisse und Rechte der BürgerInnen verloren. Es geht um den alten und immer wieder neuen Konflikt zwischen Tauschwert und Gebrauchswert, zwischen individuellem Profit und der Lebensqualität aller, zwischen Sachzwängen und Gestaltungsmöglichkeiten, zwischen Repression und Autonomie, zwischen Markt und Commons. Die umgeschnittenen Bäume werden zum Symbol der Enteignung der BürgerInnen, der Beschneidung ihrer Rechte. Die Demonstrationen und Proteste sind die Reaktionen der Commoner, die das Recht in Anspruch nehmen, sich gegen die Einhegungen zu wehren. Ein Recht das ebenso alt ist, wie die Idee der Commons.

Nach diesem Exkurs entwickle ich schließlich eine Theorie des Verhältnisses zwischen Staat, Markt und Commons, die aus der Queertheorie abgeleitet ist: Commons als Bereich jenseits von Markt und Staat bedeuten nicht ein starre Dreiecksbeziehung, bedeuten nicht drei klar voneinander getrennte Bereiche, deren Aufgaben und genaues Verhältnis zueinander man im Voraus defnieren könnte. Das würde zwar eine Entscheidungsdimension mehr eröffnen, wird aber der Vielfalt notwendiger Lösungen ebenso wenig gerecht. Die Polarität zwischen Staat und Markt soll dadurch aufgehoben werden, dass es eine Vielzahl von verschiedenen Arrangements geben kann, abhängig von der jeweiligen Staatsform, von sozialen Traditionen, von natürlichen Gegebenheiten, von den Zielen und Interessen und Möglichkeiten der Nutzer. Eine neu bestimmte, emanzipatorisch definierte öffentliche Sphäre, wie von Rainer vorgeschlagen, könnte darin eine wichtige Rolle spielen. Daher können wir diese Fragen nich vorweg klären, sie müssen Teil der ausgehandelten Regelungen sein.

Bleibt zum Schluss noch die Frage: welchen Vorteil bringt der Gemeingüteransatz gegenüber herkömmlichen umwelt- und entwicklungspolitischen Argumenten? Nun, zumindest drei haben wir ausgemacht:

  • Wir haben nicht nur einen Namen, sondern auch ein Modell und eine Theorie für etwas, das wir mit herkömmlichen Theorien und Modellen nicht beschreiben und damit auch nicht fordern konnten. Z.B. können Landtitel für die indigene Bevölkerung – die als beste Möglichkeit zur Sicherung des Ackerlandes gelten – andere Commoner um ihre Nutzungsrechte bringen, wenn diese etwa zweimal im Jahr hier mit ihren Weiden durchziehen müssen. Solche Nutzungsmöglichkeiten können mit bestehendem Recht nicht abgesichert werden, das geht nur über Commonsregelungen.
  • Was bisher als moralische Forderung ankam – wir müssen uns einschränken, verzichten, weniger brauchen – kann unter einer Gemeingüterperspektive zu einem Zugewinn an Kontrolle, Selbstbestimmung und Gestaltungsmöglichkeiten führen. Dann nämlich, wenn wir die Dinge, die wir brauchen, z.B. Nahrung oder Energie, in unserem regionalen  Umfeld organisieren und dadurch keine Ressourcen aus Entwicklungsländern abziehen, dann verbinden wir diese beiden Ziele. Dass wir Dinge als Gemeingüter behandeln, heißt auch nicht unbedingt Verzicht, Dinge können sich durch Teilen auch vermehren und das gilt nicht nur für kulturelle Gemeingüter, sondern auch für natürliche wie Ackerboden oder die Artenvielfalt.
  • Es ist ein Konzept das global angewendet werden kann und trotzdem nicht ein Modell für alle verlangt.

Viele interessante Themen wurden diskuriert, viele neue Ideen wurden nur angerissen und nicht fertig gesponnen, vieles gäbe es noch zu tun und eigentlich will ich gar nicht wieder zurück nach Graz fahren, wo ich wieder alleine an meinem Computer sitze. Gut, dass es nicht mehr lange ist bis zur nächsten Gelegenheit für persönlichen Austausch.

In Berlin, wo ich noch einige Stunden Zeit habe bis zur Abfahrt des Nachtzuges, gerate ich schließlich mitten in die Feierlichkeiten des 20. Jahrestages der „Wiedervereinigung“. Zwischen Bundestagsgebäude und Brandenburger Tor herrscht Jahrmarktstimmung. Tausende Menschen, Bühnen mit Musikgruppen, Riesenbildschirme auf denen der abendliche Festakt übertragen werden soll, alle bei solchen Anlässen unverzichtbaren Verkaufsstände, jede Menge Polizei, Konsum und Sicherheit, die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums und seine Überwachung – zwei tragende Säulen des Systems, das sich durchgesetzt hat, vorerst zumindest …