Letzte Woche war ich bei einer Veranstaltung in Wien, im Institut für die Wissenschaft vom Menschen, das liegt am Donaukanal. Der Raum war klein, der Andrang groß, die Luft entsprechend sauerstoffarm. Ich hatte mir was zu Essen mitgenommen und hatte das dringende Bedürfnis, die Mittagspause im Freien zu verbringen. Dabei hatte ich ein interessantes Erlebnis.
Es schien zwar die Sonne, aber es war nicht so besonders warm und ziemlich windig. Außerdem ist in der Gegend ziemlich viel Verkehr. Ich hielt also Ausschau nach einem geeigneten Platz. Auf der anderen Seite des Flusses fand ich den Ort meiner Wahl. Auf halber Höhe der Böschung zwischen Wasser und Straße standen mehrere Bänke in der Sonne. Ich wunderte mich, dass dort gar niemand saß, aber, umso besser, dachte ich mir. Ich ging über die Brücke, stieg die Stiegen hinunter und bemerkte noch am Rande, dass eine Gruppe von Männern oben an der Straße im Schatten saß, achtete aber nicht weiter auf sie. Entlang des Weges war eine kleine Mauer, daneben die Böschung und in die Böschung hinein gab es Mauernischen, in denen jeweils zwei Bänke standen. Und dann sah ich, in jeder der Nischen lag auf einer Bank ein schlafender Sandler (ich glaube, in Deutschland sagt man dazu Penner?), die zweite war leer. Es waren mit Abstand die besten Plätze, sonnig, einigermaßen windgeschützt, der Ausblick auf den Fluss, unter Bäumen mit bunt gefärbtem Laub, der Straßenlärm war durch Gebüsch und Böschung etwas gedämpft. Und ich empfand es eigentlich nicht als störend, wenn auf der Bank neben mir jemand schlief. Also setzte ich mich auf eine der leeren Bänke und packte meine Jause aus. Keine fünf Minuten später hob der Mann auf der Bank neben mir den Kopf, lallte etwas Unverständliches, erhob sich mühsam, schwankend, schlurfte an mir vorbei, wieder unverständliche Worte in meine Richtung lallend und wankte hinauf zu der Gruppe von Männern oben an der Straße. Sie sprachen miteinander, standen auf, schauten in meine Richtung. Ich nickte freundlich zurück, ich fühlte keine Aggression, eher Neugier und sichtliche Irritation. Ich war offensichtlich in ihre Privatsphäre eingedrungen. Dadurch ließ ich mich aber jetzt auch nicht davon abhalten, meine Mittagspause zu genießen und auch sie setzten sich wieder. Ich aß fertig, blieb etwa eine halbe Stunde dort sitzen und ging dann noch ein Stück spazieren, um mir die Füße zu vertreten.
Und dabei begann ich zu überlegen. Offenbar gibt es ungeschriebene Gesetze unter den Obdachlosen. Möglicherweise auch Hierarchien, die sagen, wer in der Sonne liegen darf und wer oben im Schatten sitzen muss. Eher aber denke ich, dass sie sich abwechseln und nachdem sich andere Leute vermutlich selten daneben setzen, haben sie das Gefühl, solange jeweils einer von uns da unten liegt, gehört das Terrain uns. Anscheinend ist es nicht erlaubt, einander zu nahe zu kommen, zumindest nicht während einer schläft, also bleibt immer eine Bank leer. Diese Menschen sind natürlich die Commoner par excellence des urbanen öffentlichen Raumes, sie sind für ihr Überleben auf ihn angewiesen und sie entwickeln vermutlich Regeln für seine Nutzung, die „normale“ Menschen gar nicht kennen. Weil diese sich üblicherweise von solchen Plätzen fernhalten, können die „Anderen“, gerade weil sie „anders“ sind und ausgegrenzt werden, ihre Räume bewahren und bewohnen. Aber das ist auf der anderen Seite auch eine Gefahr – auch für den öffentlichen Raum. Denn vielen sind sie doch ein Dorn im Auge, sie stören die Ästhetik der Konsum- und Vergnügungsstädte und die Plätze, auf denen sie noch sein können, werden immer weniger.
Vielleicht habe ich mir das mit den Regeln der Obdachlosen ja auch nur zusammengereimt. Aber mir scheint doch, dass dieses Phänomen grundsätzlich nicht nur auf diese zutrifft. Es sind ja häufig soziale Randgruppen, die ausgegrenzt werden, oder sich durchaus auch selbst ausgrenzen, die den öffentlichen Raum besetzen und – weil sich die anderen fernhalten – dann auch zur Verfügung haben. Dadurch fühlen sich andererseits viele belästigt und bedroht und es gibt Beschwerden und Streitereien, in den Medien wird Angst geschürt und es entsteht das Gefühl, die Stadt sei nicht mehr sicher.
Es waren ja die Commons auch historisch von der Idee her für die Menschen gedacht, die selbst kein Eigentum hatten. Und es sind auch heute die Menschen, die kein Haus mit Terrasse oder Vorgarten haben, die in den Parks und auf den öffentlichen Plätzen sich treffen, feiern, picknicken. Aber natürlich gibt es auch Nutzungskonflikte innerhalb der öffentlichen Räume und nicht alle Commoner haben die gleichen Interessen. Die „braven „Bürger haben mehr Chancen, sich bei den Stadtverwaltungen durchzusetzen und tragen damit manchmal selbst dazu bei, dass die öffentlichen Räume schwinden. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie ohnehin von den kaufkräftigen Menschen immer weniger genutzt werden, weil die entweder ihre – immer größer werdenden – Privatwohnungen und -häuser nutzen um sich zu treffen und zu feiern, oder ihre Freizeit an den diversen Konsumorten verbringen. Nur wer sich das nicht leisten kann, braucht noch die öffentlichen Räume um sich mit anderen zu treffen und auch für Freizeitvergnügen. Und die werden häufig als unerwünscht wahrgenommen, „verschandeln“ das Stadtbild, werden vertrieben oder zumindest überwacht und in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Diese Einschränkungen gelten dann aber natürlich für alle, nicht nur für die Randgruppen. So wird die Aneignung öffentlicher Räume durch unerwünschte Gruppen zum Vorwand für ihr Verschwinden durch Privatisierung.
Es beginnt meist schleichend. Unter dem Vorwand der Nutzungskonflikte kommen erst die Bänke weg, damit man sich nicht mehr hinsetzen kann, wenn sich die Menschen trotzdem dort aufhalten und auf den Boden setzen, kommt das Alkoholverbot, dann die Parkwache und die Überwachungskameras. Wer nicht konsumiert, wer nicht ins moderne, saubere Stadtbild passt, wer sich der Verwertung entzieht, soll nicht sichtbar sein. Um die unerwünschten Benutzer von den Plätzen fernzuhalten, wird notfalls auch der Verlust öffentlicher Räume in Kauf genommen.
Ich erinnere mich an Bad Aussee. Zur Zeit des Jugoslawienkrieges kamen auch in die ländlichen Gegenden Flüchtlinge aus Bosnien und Kroatien, die meist schnell recht gut integriert wurden, weil sich ihre Zahl in Grenzen hielt. Allerdings, diese Menschen hatten einfach eine andere Art der Nutzung der öffentlichen Räume. Abends saßen sie im Freien, lachten, sangen, tanzten, picknickten auch dort. Und dann hörte man die eine oder andere Stimme: „Man kann gar nicht mehr in den Kurpark gehen, weil dort alles voller „Jugos“ ist“. Dem Kurpark hat das nicht geschadet und die Leute haben sich aneinander gewöhnt. In den Städten ist es schwieriger. Ähnliches hört man von Spielplätzen in Graz, dort sind es „die Türken“ – oder eben auch „die Punks“, die der Grazer Bürgermeister ja mit mäßigem Erfolg seit Jahren vom Hauptplatz zu vertreiben versucht.
Dazu passt, was im Wochenendstandard in einem Beitrag zur Ausstellung „Platz da!“ stand:
„Österreich und da vor allem Wien haben zum öffentlichen Freiraum ein ziemlich gestörtes Verhältnis. Die Gründe dafür gehen zurück bis zum Polizeistaat Metternichs, in dem die Bespitzelung in der Öffentlichkeit an der Tagesordnung war. Lieber als auf dem Platz hat man sich damals im Caféhaus oder im Salon getroffen.“
Das gilt auch heute noch, umso mehr als das Problem der Bespitzelung auch wieder aktuell wird.
Gehört der öffentliche Raum denen, die ihn brauchen, weil sie sonst keinen Platz haben? Oder denen, die ganz einfach an einem sonnigen Platz ihr Mittagessen verzehren wollen? Oder denen, die ungestört ihren Sonntags-Nachmittags-Spaziergang machen wollen und deren ästhetisches Empfinden durch Obdachlose oder Punks oder grillende Großfamilien beleidigt wird? Und wie können wir miteinander auskommen, ohne Staats- und Polizeiintervention und so dass die öffentlichen Räume erhalten bleiben?
In den letzten Jahren gibt es gerade unter jungen Menschen auch wieder viele, die öffentliche Räume für Tätigkeiten besetzen, die über den Familienspaziergang am Sonntag Nachmittag hinausgehen. Die den Konsumzwang bewusst verweigern und ihre Freizeit selbst organisieren und dabei auch Räume aneignen. Die Sprayer sowieso, aber auch Juggler oder Feuerkünstler, die links-autonome Szene belebt jene Kunstformen wieder, die mit dem zunehmenden Wohlstand und der Kommerzialisierung der Kultur marginalisiert wurden. Aber auch weniger politisch motivierte Gruppen, wie die Slackliner oder Frisbee-Spieler greifen ganz bewusst auf öffentliche Räume zurück, Aktionen wie Critical Mass erheben explizit den Anspruch der Rückeroberung des öffentlichen Raums auf eine nicht angepasste Weise.
Es scheint, dass die Bewegung in zwei Richtungen geht, während durch die Verwertung des städtischen Raums und andere Einhegungsstrategien der öffentliche Raum immer weniger wird, und die Nutzungskonflikte durchaus auch als Argumente dafür missbraucht werden, entstehen gleichzeitig auch neue Gegenbewegungen. nicht nur in Stuttgart, wie im vorigen Beitrag berichtet und unter der Parole „Recht auf Stadt“ in Hamburg, sondern auch in Wien und in Graz – der Zusammenschluss vieler Bürgerinitiativen unter dem Namen „Graz denkt“ hat leider noch keine Webseite, aber ich werde sicher noch hier berichten.
Als ich am andern Ufer des Donaukanals zurückging und hinüber schaute, sah ich, dass die alte Ordnung wieder hergestellt war. In jeder Nische lag auf einer Bank ein Mann, die zweite war leer.