Für die Mai-Ausgabe der Contraste habe ich einen Schwerpunkt zum Thema Verkehrswende von unten koordiniert und darin kamen auch zwei Initiativen aus Graz vorgestellt: Die Critical Mass und die Initiative MoVe iT. Also hier mal der Beitrag über Critical Mass.
Wir behindern nicht den Verkehr – wir sind der Verkehr!
Begonnen hat alles bereits 1992 in San Francisco: scheinbar zufällig und unorganisiert trafen sich Menschen mit ihren Fahrrädern um die Straße vom Autoverkehr zurück zu erobern. Seitdem hat sich die Bewegung unter dem Namen »Critical Mass« fast über die ganze Welt verbreitet.
Auch in deutschen und österreichischen Städten treffen sich regelmäßig nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer*innen in ausreichender Zahl – das will der Begriff »critical mass« aussagen – um die Straße für kurze Zeit in Besitz zu nehmen und den motorisierten Verkehr »auszubremsen«. Ihr Ziel ist, mit gemeinsamen Fahrten auf nicht vorher festgelegten Routen durch Innenstädte, mit ihrer bloßen Menge und dem konzentrierten Auftreten von Fahrrädern auf den Radverkehr als Form des Individualverkehrs aufmerksam zu machen. Ein wesentliches Merkmal ist die nicht hierarchische, scheinbar zufällige Form der Organisation, bei der sich keine verantwortliche Person ausmachen lässt. Das Bild vermittelt Buntheit und Spass, Musik ist immer dabei, dafür sorgen die sogenannten »Soundbikes«, die Lautsprecherboxen mitführen.
Seit mehr als 13 Jahren in Graz
Seit 2007 gibt es Critical Mass auch in Graz, immer am letzten Freitag im Monat, immer zur gleichen Zeit vom gleichen Treffpunkt und das ganze Jahr über. Die »kritische« Masse, die notwendig ist, um dem motorisieren Verkehr Paroli zu bieten und unter der es keinen Sinn mehr macht loszufahren, wurde mit 10 festgelegt. Meist sind es aber je nach Wetter und Jahreszeit zwischen 50 und bis zu 170 Teilnehmende aller Altersgruppen, wobei Junge überwiegen. Nicht nur normale Fahrräder kann man dabei sehen, sondern auch Lastenräder, Tandems, Liegeräder oder die sogenannten »Freak-Bikes« oder »Tall Bikes«, originelle Fahrräder, die in den Fahrradküchen zusammengeschweißt werden. Getragen wird die Initiative von Menschen aus der Fahrradküche, einer selbstorganisierten Fahrradwerkstatt, von der Radlobby ARGUS und – vor allem in der Anfangszeit – auch von Fahrradboten.
Aber wie reagieren Polizei und die anderen Verkehrsteilnehmer*innen auf die Aktionen? Wie kann man für eine Veranstaltung, für die mit Flyern und in sozialen Medien öffentlich geworben wird, die Unorganisiertheit glaubhaft machen? »Am Anfang kam es schon immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die versuchte, verantwortliche Personen zu eruieren und uns mit ein bis zwei Polizeiwägen eskortierte«, erzählt eine Person, die von Anfang an dabei war, aber nicht namentlich genannt werden will. Aber man blieb im Gespräch, arrangierte sich und nun passiert es sehr selten, dass Polizei auftaucht, wie kürzlich erst, wo von vier Polizisten aus zwei Einsatzfahrzeugen noch keiner von Critical Mass gehört hatte. Sie wurden aufgeklärt und zogen wieder ab.
Hupt, wenn ihr uns mögt!
Überhaupt setzt die Bewegung auf Freundlichkeit und Konfliktvermeidung. Es werden Flyer mit den Prinzipien verteilt, etwa »Wir sind friedlich und provozieren andere VerkehrsteilnehmerInnen nicht«, oder, auf einem anderen »wir beleidigen nicht mal Autos, die‘s verdienen«. Aber so erzählt die Auskunftsperson, »wenn Autos hupen, antworten wir ihnen mit einem Klingelkonzert. Manchmal sagen wir auch ›hupt, wenn ihr uns mögt‹«. Man hält sich weitgehend an Verkehrsregeln wie Einbahnstraßen oder rote Ampeln. Wenn allerdings die Ampel auf Rot springt, bevor alle drüber sind, fährt der Rest noch nach – was in Deutschland erlaubt ist, in Österreich aber nicht. »FußgängerInnen und Öffis haben Vorrang! Wir respektieren Zebrastreifen und lassen Busse und Trams passieren«, heißt es ebenfalls im Flyer. Sicherheit wird groß geschrieben, man bewegt sich langsam weiter, die Gruppe bleibt zusammen, wenn Lücken entstehen wird gewartet. Kreuzungen werden abgesichert, so dass kein Auto von der Seite den geschlossenen Pulk teilen kann.
Wer vorne ist, entscheidet
Radwege benutze man aber nicht, sei es doch gerade das Ziel, die Straße zu besetzen. Ein besonderes Gefühl sei es, wenn der Pulk mehrspurige Straßen in ganzer Breite einnimmt und die Autos sich hinten anstellen müssen und man habe die ganze breite Straße leer vor sich. Einen besonderen Reiz haben auch Kreisverkehre, die gern mehrmals von der ganzen Gruppe umrundet werden.
Und wer entscheidet wohin man fährt? »Das machen die vordersten unter sich aus«, lautet die Antwort, »und wenn jemand eine Idee hat, oder einfach Lust die Strecke mitzubestimmen, dann kommt diese Person einfach nach vorne«. Üblicherweise dauern die Aktionen ein bis eineinhalb Stunden, im Sommer aber auch manchmal bis in die Nacht hinein, »weil es einfach Spass macht«, und manchmal gibt es anschließend ein Picknick.
Critical Mass für jeden Anlass
Es gibt auch besondere Aktionen, je nach Jahreszeit. Etwa im Juni die »Naked Bike Rides«, wo die Teilnehmenden mehr oder weniger nackt fahren und durch die spärliche Bekleidung auf die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers, besonders von Radfahrer*innen im Straßenverkehr hinweisen. Rund um Halloween findet die »Creepy-cal Mass« statt, mit gruseliger Verkleidung, Spinnweben, einem mitgeführtem Sarg und ähnlichem Zubehör. Im Advent werden die Räder mit Lichtergirlanden geschmückt und die Soundbikes beschallen die Stadt mit Weihnachtsliedern. Manchmal gibt es »Kidical Mass«, speziell für Kinder.
Kommt ein Radfahrer bei einem Verkehrsunfall ums Leben, wird beim nächsten Critical Mass das »Ghost Bike« mitgeführt. Das ist ein komplett weiß gestrichenes, fahruntüchtiges Fahrrad, das in der Nähe der Unfallstelle aufgestellt wird und dort für längere Zeit stehen bleibt. Dafür werden Grundbesitzer*innen gesucht, die das ermöglichen. Manche Ghostbikes sind nach wenigen Monaten weg, andere stehen schon seit Jahren und halten das Andenken an getötete Radfahrer lebendig.
Critical Mass ist eine Aktion, die mit Spass, Lautstärke und friedlich für mehr Platz für Radfahrer wirbt und darauf aufmerksam macht, dass die Stadt mehr Raum für dieses umweltfreundliche Verkehrsmittel zur Verfügung stellen sollte.
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