Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte Michael Hardt zu einer Luxemburg lecture geladen mit dem Titel „What to do with a crisis?“ Im Ankündigungstext hieß es:
Kapitalistische Herrschaft beruht immer auf der Produktion von Subjektivitäten. Die aktuelle Gesellschaftskrise, welche die anhaltende ökonomische Krise begleitet, wird von vier Figuren der Subjektivität charakterisiert. Denen, die verschuldet sind. Solche, die durch die Medien instrumentalisiert werden. Subjekte, die als Sicherheitsproblem gelten. Und jene, die sich nicht selbst vertreten, sondern für die jemand spricht. Also: Verschuldete, Mediatisierte, Sekurisierte und Repräsentierte.* Die Analyse dieser Figuren wird verbunden mit den Möglichkeiten, die eine jede für Rebellion und die Umkehrung der Beziehungen zum Kapital bietet.
*Auf deutsch: Verschuldete, Vermittelte, Ver- und Gesicherte und Vertretene
Das heißt nun freilich nicht, dass sich jeder von uns einer dieser Subjektivierungsformen zuordnen müsste, oder dass unsere Identität absolut vom System geformt würde. Aber dass die verschiedenen Ausprägungen des Kapitalismus Einfluss auf die Art haben, wir wir uns selbst zu Subjekten machen, dass sie die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung einschränken und in eine bestimmte Richtung lenken, das lässt sich nicht leugnen. Und ich verstehe Hardt so, dass die aktuelle Form der Krisenbewältigung die Subjektivierungsweise noch einmal spezifisch verändert hat und dass unser aller Identitäten mehr oder weniger von diesen vier Subjektivierungsformen geprägt sind.
Besonders interessant fand ich seine Skizze des „verschuldeten Subjekts“. Er bezog sich dabei natürlich auf die Situation in den USA, wo diese Subjektivierunsform sicher stärker präsent ist als bei uns, aber die grundsätzlichen Dinge sind jedenfalls auch für uns relevant. Er meinte, für alles was wir brauchen, müssten wir Kredite aufnehmen, für die Ausbildung – praktisch jeder Student in den USA startet mit Schulden in seine Berufskarriere, und bei uns überlegt man ja gerade ein ähnliches System – um zu wohnen, aber vermehrt auch rein um zu konsumieren. Anstatt Löhne von denen man leben kann oder Sozialleistungen gibt es Konsumkredite. Von „workfare“ zu „deptfare“ nannte Hardt das. Am besten sind die Kredite, die der Kreditnehmer nie zurückzahlen kann, sondern für die er sein ganzes Leben lang nur an den Zinsen zahlt. Dafür sind ja die amerikanischen Kreditkartenunternehmen Spezialisten. (Das ist natürlich eine Gratwanderung, denn wenn der Kreditnehmer auch die Zinsen nicht mehr zahlen kann und wenn das nicht einer sondern mehrere sind, dann stürzt das ganze System wie ein Kartenhaus in sich zusammen, wie bei der Subprimekrise 2006.) Aber, was in dem Zusammenhang wichtiger ist: Durch dieses Verschuldungsregime wird Kapital nicht mehr nur im Produktions- sondern zunehmend im Konsumbereich akkumuliert. Das heißt, dass durch den bloßen, alltäglichen Erwerb des Lebensnotwendigen das Kapital sich vermehrt. Menschen werden damit aber nicht mehr als Produzenten wahrgenommen, sondern auf die Rolle der Konsumenten reduziert (sag ich ja immer schon ;-)). Und während im Bereich der Produktion immer noch der Schein der Gleichheit zwischen dem Anbieter und dem Käufer der Arbeitskraft gewahrt wird, sich die beiden als gleichberechtigte Vertragspartner gegenübertreten, sind Schulden ein per se hierarchisches Verhältnis. Schuld ist eine soziale Beziehung, sie bindet die Menschen aneinander, aber in ausbeuterischer Weise. Die Schuld ist dabei immer auch verbunden mit dem Schuldgefühl – wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, haben zu viel ausgegeben, müssen sparen, den Gürtel enger schnallen. Ein verschuldetes Individuum ist ein leicht regierbares Individuum.
Mit „mediatisiert“ oder „vermittelt“ meint er, dass wir zwar über die Medien vernetzt und ständig irgendwie in Kontakt seien, es sich dabei aber um eine sehr reduzierte Art des Ausdrucks handelt – auf einen „like-button“ drücken, eine 140 Zeichen Twitterbotschaft schicken oder mit einer SMS zum Flashmob aufrufen. „Echte“ Kontakte, ausführliche Auseinandersetzungen, dafür bleibe kaum noch Zeit. Die Art wie wir kommunizieren und worüber wir kommunizieren wird durch die Medien vorstrukturiert.
Das Bild des ge- und versicherten Subjekts spielt natürlich auf die allgegenwärtige Überwachung an und auf die Tatsache, dass wir auch aufgefordert werden, aufmerksam zu sein und andere zu überwachen. Wir sind sozusagen immer gleichzeitig Gefängnisinsassen und Wachhunde. Hier hat er vor allem darauf hingewiesen, dass die Hautfarbe eines Menschen direkt korreliert mit der Chance im Gefängnis zu landen, auch in Europa. Aber was für mich wirklich neu war: in den USA sind derzeit mehr Schwarze im Gefängnis als im 19. Jahrhundert Sklaven waren! Diese Sicherheitsfixierung steht zudem in engem Zusammenhang mit der Angst, die in vielen Zusammehängen verbreitet wird.
Und schließlich das repräsentierte Subjekt, dem die Fähigkeit abgesprochen wird – oder die Möglichkeit genommen wird – für sich selbst zu reden. Das erleben wir ja heute ständig, wenn die Politiker meinen, sie müssten uns ihre Politik erklären, weil wir nicht vestehen würden, dass sie nur zu unserem Besten handeln. Repräsentation verbindet die Menschen mit der Sphäre der Macht und trennt sie gleichzeitig davon. Das Bild vom repräsentierten Subjekt verschleiert unser Potential zur aktiven Gestaltung unserer Umwelt.
In der Occupy-Bewegung treten nun hinter allen diesen auferlegten Formen der Subjektivierung die Persönlichkeitsaspekte hervor, die durch sie verschleiert oder unterdrückt wurden: Das Individuum wird vom Konsumenten wieder zum Produzenten seiner Lebenswelt, statt Schuldbeziehungen entstehen echte Beziehungen, an die Stelle medienvermittelter Kommunikation tritt wieder direkte Auseinandersetzung, durch die reale Sicherheit, die die Gemeinsamkeit bietet, verschwindet die Angst und damit verliert das Sicherheitssystem seine Wirkung und schließlich tritt an die Stelle des repräsentierten Subjekts das Individuum, das für sich selbst spricht. Die Forderung nach „echter“ Demokratie durchzieht die ansonsten sehr verschiedenen Teile der Occupy-Bewegung in den verschiedenen Ländern.
Der Vorwurf, die Occupy-Bewegung habe keine konkreten Forderungen, gehe ins Leere meinte Hardt. Ihre Forderung wäre nur in der Logik des herrschenden Systems nicht verständlich und könne dort auch nicht eingelöst werden. Das drückt sich aus im Slogan des Argentinischen Widerstandes aus 2001 „Unsere Träume sind zu groß für eure Wahlurnen“. Wir wollen nicht Repräsentanten wählen, die für uns reden, wir wollen selbst sprechen. Dann erst kann über inhaltlich Fragen verhandelt werden. Die Forderung der Occupy-Bewegung ist keine geringere als die nach dem Ende der bürgerlichen, republikanischen, repräsentativen Demokratie.
Und ja, natürlich, der Bereich der Produktion wird in dieser Sichtweise nahezu ausgeblendet. Was eventuell damit legitimiert werden könnte, dass dieser Bereich ja offensichtlich auch für die Kapitalakkumulation immer weniger wichtig wird und andere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die hier explizierten, mehre Bedeutung erlangen. Aber auch ich denke nicht, dass der Ausweg aus dem Kapitalismus nur auf dieser Ebene möglich ist.
Wenn wir aber bedenken, dass der Kapitalismus als Produktionsweise und der bürgerliche Staat mit seiner repräsentativen Demokratie im gleichen Prozess entstanden sind, nicht so, dass die eine die Bedingung für die andere wäre, aber doch so, dass eine ohne die andere nicht bestehen könnte, dann gilt das auch für eine neue, erst zu entstehende Produktionsweise gleichermaßen. Die Herausbildung einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise ist sicher nicht möglich innerhalb der Mechanismen repräsentativer Demokratie in einem Staat dessen vornehmste Aufgabe der Schutz des Privateigentums ist. Neben Keimformen einer neuen Produktionsweise brauchen wir wohl auch Keimformen einer neuen Regierungsweise. Und wenn auch eine Änderung der demokratischen Mechanismen noch nicht automatisch das Ende des Kapitalismus darstellt, so ist die Entwicklung einer neuen Produktionsweise ohne eine Änderung der Regierungsweise sicher auch nicht zu erreichen, sondern wie die Durchsetzung des Kapitalismus braucht auch seine Überwindung das Wechselspiel zwischen beiden. In diesem Sinne kann die Occupy-Bewegung als wichtiger Teil eines längeren und umfassenderen Transformationsprozesses verstanden werden.
Hier das Video des Vortrages:
[youtube http://www.youtube.com/watch?v=O1v8hrJZU_0?feature=player_embedded&w=640&h=360]
„Neben Keimformen einer neuen Produktionsweise brauchen wir wohl auch Keimformen einer neuen Regierungsweise.“
Ab damit in die Schatzkiste für Zitate!
Danke.
Genau genommen ist ja mein Ansatz der, dass in den Commons diese BEIDEN Keimformen schon angelegt sind.
Neue Regierungsweise? Verwechselst Du da nicht das Problem der selbstbestimmten Regulierung mit einer Regierung, also einem per se hierarchischem Verhältnis?
Nein, Annette, tu ich nicht. Ich weiss nur kein angemessenes dt. Wort für „governance“ … die ja auch self-governed sein kann.
Commons sind auch spezifische Governance-Formen.
„governance“ ist aber nicht „Regierung“, sondern eher „Steuerung“ oder weiter gefasst „Organisation“. „self-governance“ wäre also „Selbststeuerung“ oder „Selbstorganisation“.
Bei „Keimformen einer neuen Regierungsweise“ habe ich auch gestutzt… Da denken alle sofort an Merkel und Co.
Also vielleicht „Keimform einer neuen Organisationsweise“?
nee, da bin ich nicht einverstanden. Es steht ja da „Regierungsweise“ und nicht „Regierung“ und in der Regel wird das überhaupt nicht verwechselt. Schon gar nicht im Englischen. Zwischen Governance und Government gibt es einen Riesenunterschied. Commons sind ein Governance-System.
Schön, dass ihr so heftig drüber diskutiert :-)! Ich weiß auch kein besseres Wort. Ich mag ja Governance nicht, weil es einfach in der Politikwissenschaft zumindest im deutschsprachigen Raum, eine ganz bestimmte Bedeutung hat. Darum sag ich lieber Regierungsweise. Der Begriff stammt von Foucault und der spricht ausdrücklich auch von Selbstregierung. Und der Begriff drückt sehr gut das Wechselspiel zwischen Individuum und Struktur (F. nennt es Selbstregierung und Fremdregierung) aus, in dem Subjektivität gebildet wird. In dem Sinne passt es auch gut zu Hardts Vortrag. Man könnte auch Regulierungsweise sagen, das kommt aus der marxistischen Staatstheorie und ist denke ich noch mehr an Staat gebunden oder Regulierungsmodus, aber das klingt so technisch.
Nach Foucault wären Government und Governance auch Regierungsweisen und Selbstverwaltung eben eine andere – weil auch in selbstorganisierten Einheiten entstehen ja spezifische Subjektivitäten, weil sich die Individuen auch aufeinander beziehen müssen.
@ Brigitte: Wo steht das bei Foucault? Ich müsste aber das frz. Original angucken. Ich traue den Übersetzern nicht. In den Übersetzungen werden zu oft verschiedene Konzepte immer vermengt.
Und: Habe Deinen Text zu der spezif. Bedeutung von Governance im Deutschen noch nicht gelesen (sorry, mach ich noch), aber ich habe rumgefragt unter den Politikwissenschaftlern um mich rum und keinen Hinweis darauf gefunden. Ich benutze ja Governance im Unterschied zu Government auch schon seit Jahre … und greief jetzt im Buch auch oft auf Governance zurück, um das Übersetzungsproblem wenigstens manchmal zu umschiffen.
Silke, das steht nicht an einer Stelle – das ist wie bei Marx, Foucault hat sich sein ganzes Leben mit Fragen von Macht und Subjektivität beschäftigt und immer weiter entwickelt und auch da gibt’s unterschiedliche Rezeptionen. Das Originalwort heißt Gouvernementalität und es wird üblicherweise mit Regierungsweise übersetzt, auch nicht von einer Person, das ist ja eine ganze Theorieströmung. Die Wortwahl wurde von Menschen getroffen, die sich mit den Theorien auseinandergesetzt haben, teilweise auch noch mit ihm gearbeitet haben.
ah, danke, Brigitte: erhellend das hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Gouvernementalit%C3%A4t
Foucault sei da fragementarisch geblieben und es bleibt dabei, dass auch hier der Begriff nicht mit der Regierung zu verwechseln ist. Das können wir ja nochmal festhalten und dann suchen wir weiter nach innovativen Begriffen für „governance of the commons“ (vermutlich brauchen wir da einen Neologismus). Selbstorganisation allein ist es nämlich auch nicht.
Vielleicht Commonance.
Foucault verwendet „Regierung“ nicht für eine staatliche Institution, sondern als Verb – Regierung bezeichnet dann eine Tätigkeit oder einen Prozess. Und ja, er ist fragmentarische geblieben, aber seither haben viele Menschen daran weiter gearbeitet und es gibt jede Menge Bücher. Gib mal Gouvernmentaltiät oder noch besser das englische governmentality bei Amazon ein – 173 bzw. 366 Ergebnisse. Ich habe ja einges dazu geschrieben, wenn auch nicht veröffentlicht, es sollte meine Diss werden ;-), ich werd mal schauen, ob ich da was ausgraben kann, das für den Blog passt und vielleicht hilfreich beim Begriffe finden sein kann. Falls sich jemand für Soziale Arbeit interessiert, hier gibt’s eine Kostprobe:
http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/167/239
Ich stehe jetzt wieder vor dem Übersetzungsproblem. „Regierungsweise“ finde ich nicht geeignet, weil es im Deutschen eine klare Trennung von Regierten und Regierenden gibt. Regierungsweise bezieht auf die Regierenden, es ist die Weise wie sie regieren — da bin ich also nicht so optimistisch wie du, Silke, dass das auseinander gehalten wird. Im Englischen mag das anders sein.
Die Wikipedia-Darstellung von „governance“ ist nicht schlecht (wenn auch instabil): http://de.wikipedia.org/wiki/Governance : „… übersetzt als Regierungs-, Amts- bzw. Unternehmensführung –, auch Lenkungsform, bezeichnet allgemein das Steuerungs- und Regelungssystem im Sinn von Strukturen (Aufbau- und Ablauforganisation) einer politisch-gesellschaftlichen Einheit wie Staat, Verwaltung, Gemeinde, privater oder öffentlicher Organisation. Häufig wird es auch im Sinne von Steuerung oder Regelung einer jeglichen Organisation (etwa einer Gesellschaft oder eines Betriebes) verwendet.“
Steuerungs- und Regelungssystem (oder -weise) finde ich vorerst geeignet.
Es klingt halt etwas ingenieurstechnisch.
Man müsste vielleicht den Kontext Deines Übersetzungsproblems sehen, um noch auf andere Ideen zu kommen.
Es geht um dieses Interview: http://www.shareable.net/blog/governance-of-open-source-george-dafermos-interview
Ich habe jetzt folgende (vorläufige) Anmerkung formuliert: „Governance“ hat im Deutschen keine direkte Entsprechung. Der Begriff fasst allgemein die Art und Weise der sozialen Regelung und Steuerung von Organisationseinheiten, im Falle der Peer-Produktion von Communities. Abkürzend wird hier „soziale Regelung und Steuerung“ oder einfach nur „soziale Steuerung“ verwendet.
Ich find eure Diskussion spannend – und muss auch wieder mal was beitragen. Gestern hab ich in einem Buch über zapatistische Frauen gelesen, wie eine Mutter erzählt, wie sie ihre Kinder erziehen. „… wir zeigen ihnen, wie wir unserer Autonomie ausüben, wie wir uns regieren„. Regierung und Autonomie passen durchaus zusammen, wenn man es so sieht, dass man sich auch selbst regieren kann, individuell und kollektiv ;-). Schließlich geht’s ja immer darum, irgendwelche Leitlinien dafür zu haben, was man tun soll, was richtig oder falsch ist. Das kann man als „Regieren“ verstehen. Es kommt dann darauf an, wer die Leitlinien vorgibt.
Soziale Regelung oder Steuerung find ich grundsätzlich auch ok, klingt aber, wie Silke richtig bemerkt, sehr technisch. Außerdem, wenn man Regierung im Sinne von Foucault versteht, dann gehört eben dabei immer das Wechselspiel von Selbststeuerung und Fremdsteuerung dazu, in dem eigentlich Identität und auch soziale Beziehungen erst entstehen können.