Hilary Wainwright hat den Buchtitel „Reclaim the State“ (eine Besprechung des Buches siehe hier und hier), so schreibt sie, gewählt als „Herausforderung an New Labour und als Provokation für ihre anarchistischen Freunde“. Nun, zumindest einer der anarchistischen Freunde hat sich provozieren lassen und daraus ist ein interessanter Mailwechsel entstanden zwischen Hilary Wainwright und John Holloway. Dessen Buch „Kapitalismus aufbrechen“ (auf englisch „Crack Capitalism“) hab ich an anderer Stelle schon erwähnt. Holloway vertritt bekanntlich eine sehr staatskritische Position und sieht den Staat ausschließlich als Instrument kapitalistischer Herrschaft.
Die Diskussion zwischen Holloway und Wainwright wurde auf der Webseite von Red Pepper veröffentlicht. Weil ich sie für hochinteressant halte und weil ich glaube, dass in dem sich hier öffnenden Spannungsfeld die Chancen zu gesellschaftlicher Veränderung liegen, werde ich hier – so weit ich dazu komme – die wichtigsten Aussagen auf Deutsch wiedergeben, wobei ich nicht den Anspruch einer wörtlichen Übersetzung zu erfüllen versuche.
Hier einmal des erste Mail von Holloway an Wainwright:
Liebe Hilary!
Kapitalismus ist eine Katastrophe für die Menschheit. Das klingt so einfach und offensichtlich, dass man es gar nicht mehr zu erwähnen brauchte, trotzdem ist es wichtig es immer wieder zu betonen. Kapitalismus ist eine Katastrophe für die Menschheit.
Die Art und Weise wie wir unsere sozialen Beziehungen organisieren (die menschlichen Tätigkeiten zueinander in Beziehung setzen) produziert eine Dynamik, die unkontrollierbar ist und die Ungerechtigkeit, Gewalt und Menschenverachtung hervorbringt und nun das menschliche Leben in seiner Gesamtheit bedroht.
In deinem Buch zitierst du Walden Bello der sagt: „Neoliberalismus ist wie ein Lokführer im Wilden Westen, der erschossen wird und mit der Hand auf dem Beschleunigungshebel? (keine Ahnung wie sowas in einer Lok heißt, vielleicht sollte ich meine Freunde von der Eisenbahnergewerkschaft fragen 😉) stirbt. Er ist zwar tot, der Zug aber rast mit unverminderter Geschwindigkeit ins Verderben.“ Aber es geht nicht nur um den Neoliberalismus, der Kapitalismus ist das Problem, ein System in dem soziale Beziehungen durch Geld hergestellt werden und dessen treibende Kraft das Streben nach mehr Geld, also Profit, ist.
Wie können wir den Zug stoppen und abspringen? Was können wir der Dynamik kapitalistischer Entwicklung entgegensetzen, die uns in den Abgrund führt? Das ist das Problem. Das ist die Frage für allen Anti-Kapitalisten, Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, Menschen, oder wie immer wir uns nennen.
In deinem Buch geht es um Demokratie – es ist ein ausgezeichnetes, anregendes und lesenswertes Buch über Demokratie. Aber Demokratie ist nicht das Hauptthema. Solange es Kapitalismus gibt, bleibt die Hand des Lokführers auf dem Beschleuniger, und Demokratie dient bestenfalls dazu, die Sitzplätze im Zug gerechter zu verteilen. Das ist keineswegs unwichtig und kann zu wirklichen Verbesserungen der Lebensbedingungen der Passagiere führen, aber es lenkt uns von der Tatsache ab, dass die Hand des toten Fahrern uns nach wie vor ins Verderben führt und während der ganzen Fahrt weiterhin Ungerechtigkeit und Zerstörung hervorbringt. Um die Hand des Fahrers zu entfernen, müssen wir den Kapitalismus bekämpfen, die aktuelle Form menschlicher Aktivität – aber in deiner Diskussion über Demokratie wird der Kapitalismus überhaupt nicht erwähnt. [Das, so meine bescheidenen Meinung, stimmt nicht, dazu, wie zu einigen anderen Stellen, siehe unten unter (*)]
Ich sehe deine Protagonisten/Passagiere in einem etwas anderen Licht. Aus meiner Sicht versuchen sie nicht nur, bessere Sitze im Zug zu erwischen, sie trommeln an die Fenster, schreien, dass sie aussteigen wollen oder rennen vielleicht alle in die Gegenrichtung, in der Hoffnung, dass sie den Zug dadurch abbremsen können.
Etwa das Beispiel aus Luton, wo eine Gruppe von Leuten begann, Feste im Stadtteil zu organisieren, was schließlich dazu führte, dass sie Teil eines Netzwerks wurden, das über ein großes Budget für einen ganzen Stadtteil verfügen konnte (s. voriger Blogeintrag). Eine wirklilche Verbesserung, wie du sagst, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass diese Feste mehr waren, als der Versuch, das Leben innerhalb des Kapitalismus zu verbessern.
In diesen Festen liegt mehr, es ist ein Schrei der Verweigerung, das Zerbrechen von Fenstern, der Aufbruch in eine andere Richtung, der Versuch, Beziehungen herzustellen, die jenseits der Geldlogik funktionieren. Das ist es, was ich als Bruch in den kapitalistischen Beziehungen bezeichne, als eine bewusste oder weniger bewusste Unangepasstheit, ein Zurückweisen-und-Neuschaffen, die Verweigerung mit dem kapitalistischen Strom zu schwimmen und ein Versuch, ein Leben auf einer anderen Basis im Hier und Jetzt zu leben.(*)
In diesen Festen ist ein Widerspruch, ein Spannungsverhältnis zwischen „Lasst uns die Kids von der Straße holen und ihnen etwas Sinnvolles zu tun zu geben“ und „lasst uns ausbrechen aus dieser Welt der Geldlogik“. Welche Position nehmen wir zu dieser Spannung ein? Auf welcher Seite stehen wir?
Aus deinen verschiedenen Beispielen wird sehr deutlich, dass der Staat immer (manchmal mehr, manchmal weniger) ein Prozess ist (Staat als Prozess – eine interessante Sichtweise!), in dem diese Experimente aufgegriffen und wieder ins herrschende System eingepasst werden. Es geht nicht nur darum, Zugeständnisse zu machen, sondern Menschen in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen. Diejenigen, die vorher ausgeschlossen waren, werden hereingeholt, eingeschlossen. Der Staat wird demokratisiert, die Menschen erheben Anspruch auf ihn. Die vorher Objekte von Politik waren, sind nun Subjekte.
Aber die Subjekte, die in diesen Prozessen entstehen, sind in ihrer Subjektivität begrenzt. Sie sind (im besten Fall) Subjekte der Politik, aber nicht Subjekte sozialer Selbstbestimmung. Die Dinge, über die sie mitbestimmen dürfen, liegen innerhalb eines unhinterfragten und unhinterfragbaren kapitalistischen Kontextes mit Privateigentum und Profit und allem was daraus resultiert.
Du könntest nun sagen, dass das der erste Schritt sein könnte zu einer voll emanzipierten Subjektivität, zu einem Prozess echter Gesellschaftsgestaltung von unten. Das könnte so sein, wenn man eine solche fortschreitende Demokratisierung als Teil einer Bewegung im-gegen-und-über-den-Kapitalismus-hinaus sieht, in der der Bruch das zentrale Ereignis ist. Aber in deinen Beispielen gibt es keinen Hinweis darauf, dass das so sein könnte.(*)
Am Ende des Buches fühle ich mich irgendwie in der Falle: natürlich können wir Dinge verbessern, aber niemand in deinem Buch scheint zu denken, dass eine andere Welt möglich sein könnte, eine Welt ohne öffentliche Subventionen und ohne Bürokratie, ohne Geld und Profit und ohne Kapital.(*)
Mein Argument geht genau in die umgekehrte Richtung: Ich glaube, es gibt eine tiefsitzende und wachsende Wut gegen die Regierung des Geldes. Das wurde sichtbar in den Studentenbewegungen der letzten Monate, die nicht akzeptieren wollten, dass Bildung absolut der Logik des Geldes unterworfen werden sollte. Aber dieser Zorn findet nicht nur in vielfacher Weise auf den Straßen Ausdruck, wo Menschen sich dagegen zur Wehr setzen, dass alle Aspekte ihres Lebens durch Geld bestimmt sind und neue Wege entwickeln, Dinge zu tun, neue Arten von Beziehungen und neue Denkmuster.
Diese Revolten, diese Zurückweisungen-und-Neuschaffungen stellen ebenso viele Brüche in der kapitalistischen Logik, soviele Risse in der Regierung des Geldes, so viele Ausbrüche aus einer Welt der Zerstörung dar. Das ist die aufregende Seite dieser Feste: nicht, dass sie der Ausgangspunkt dafür sein können, besser in die Strukturen des Kapitalismus zu passen, sondern eher dass sie einen Ausbruch von Unangepasstheit darstellen.
In eine Gesellschaft zu passen, die dem Tod dient, bedeutet, selbst zu sterben. Lasst uns „nicht passen“ und lassen wir unser „Nicht-Passen“ wachsen und zusammenfließen. Das ist der einzige Weg, wie wir diese Welt zerstören und eine neue erschaffen können.
Empören wir uns, empören wir uns, gegen die Herrschaft des Geldes! (Ich geb’s zu, das hab ich jetzt ausgeborgt, aber ich finde, es trifft es ziemlich gut und ich hoffe, Holloway wäre auch einverstanden mit dieser Übersetzung 😉).
John
Das war’s für’s erste, Fortsetzung folgt!
(*) Es ist seltsam und auch ich erlebe das hin und wieder, dass ich eine halbe Stunde über Commons rede und dann sagt jemand, das ist alles gut und schön, aber du hast das Wichtigste nicht angesprochen, es geht um den Kapitalismus. ??? Dabei habe während der ganzen halben Stunde nichts anderes getan als über und gegen den Kapitalismus geredet. Meiner Meinung nach handelt auch Hilary’s ganzes Buch vom Kapitalismus und den Ausbruchsversuchen daraus. Das muss man nicht immer hinschreiben, das merkt man auch so. Aber es gibt manche in der linken Szene, die nicht verstehen, dass man vom Kapitalismus spricht, weil bestimmte Schlüsselwörter nicht vorkommen. Dabei geht nicht um die Schlüsselwörter, es geht um die Beschreibung von alltäglichen Zumutungen und den Kampf gegen diese, Situationen, die alle Menschen aus ihrem täglichen Leben kennen und darum verstehen sie das, während die Schlüsselwörter nur Eingeweihte verstehen und sie für manche abschreckend sind. Und außerdem betont Hilary immer wieder, dass es um einen Systemwandel geht, den wir aber innerhalb des Systems beginnen müssen. Gerade dieses Potential für ein „darüber hinaus“ ist es, was sie veranlasst hat, dieses Buch zu schreiben, so verstehe zumindest ich es.
Danke für die Übersetzung, tolle Sache!!
Ich spreche auch immer wieder über die Commons, und mich hat noch nie jemand nach dem Kapitalismus gefragt — weil er sowieso als integraler Bestandteil in meiner Analyse vorkommt. Das geben die Commons alleine nicht her. Sie haben zwar das Potenzial, aber man muss die »Systemebene« der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung als solche explizit thematisieren (das zeigt auch diese Diskussion). Das hat nichts mit bestimmten Schlüsselwörtern zu tun. John Holloway tut das in einer Weise, die ich sehr gut nachvollziehen kann (auch wenn ich weniger die »Empörung« betone, obwohl ich empört bin).
Bin gespannt auf die Antwort!
Nur wenn ich dann lese:
„Wie können wir den Zug stoppen und abspringen?“
tauchen doch Zweifel spaetstens auf. Sicher geht es um Empoerung etc. und sicher geht es auch um Alltag-Dinge, bei denen man nicht immer die grossen „Schlagworte“ verwenden muss (wenngleich Portugal etc. sehr schoen zeigen, wie das seben auch zusammenhaengt und, wie Du an anderer Stelle schreibst, „genutzt“ wird. Aber weil und wie es genutzt wird hat eben etwas damit zu tun, dass es um ein GRUNDSAETZLICH, FUNDAMENTAL historisches System geht – welches Fortschritt war und welches des Fortschrittes bedarf. Geschichte kann man nicht stoppen und von ihr kann man auch nicht abspringen. – Da hatte Lenin eben doch schon lange vor unserem heutigen Aufbegehren viel geschrieben. Und man mag es bedauern oder nicht, aber er hatte eben mit vielem auch Recht – vielleicht bedauernswert in dem Sinne, dass da eine Phase kommt, die eben nicht so ’smooth‘ ist, wie man es sich wuenscht. Aber die sicherlich auch nicht so technisch ist, wie es Blair oder ECB einreden wollen.
Packen wir’s an [auch =ich geh jetzt ins Buro ;-)]