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Crack Capitalism or Reclaim the State? II

Hier nun die Antwort von Hilary Wainwright an John Holloway aus der Diskussion in Red Pepper.

Lieber John!

Danke für deine Herausforderung! Zuerst einige Gedanken zu deinem Buch „Crack Capitalism“:

Ich fand es so spannend, weil es scheint, dass wir eine gemeinsame Ausgangsposition haben – unsere Meinungen gehen auseinander über die Probleme, die in der Praxis auftauchen. Ich teile deine Einschätzung der Gefahren, denen wir uns gegenüber sehen, der Mauern, die uns umschließen. Gleichzeitig sehe ich, wie du, Sprünge die sich auftun und breiter werden.

Ich stimme dir auch zu, dass wir, um diese Sprünge zu öffnen und auszuweiten, alle Kräfte bündeln müssen, die nicht eine Zentralisierung oder eine totalitäre Vision anstreben, sondern die Vielfalt der untschiedlichen Kämpfe und Initiativen für einen Systemwandel schätzen. Ausgehend von dieser gemeinsamen Basis möchte ich die Unterschiede deutlich machen.

Durch das Buch zieht sich eine wesentliche Frage: gibt es einen Weg, wie wir den globalen Kapitalismus und die Millionen Revolten gegen seine alltäglichen Zumutungen so beschreiben können, dass deutlich wird, dass es dieselbe Zwickmühle ist, in der wir alle stecken und der uns hilft, uns zu vereinigen, um eine andere Welt zu schaffen?

Um diese Frage zu beantworten greifst du berechtigterweise auf Marx‘ zentrale These zurück, dass Arbeit im Kapitalismus eine Doppelnatur besitzt. Einerseits ist sie abstrakte Arbeit für die Produktion von Waren für den Markt, die einen objektiven Wert zugeschrieben bekommen, der sich im Tausch gegen Geld auf dem Markt ausdrückt, aus dem das Kapital Profit generiert. Auf der anderen Seite steht die Dimension der Arbeit, die du „Tun“ nennst, nämlich die Arbeit, die Gebrauchswerte produziert, konkret und einzigartig, sozial und individuell.

Wie du betonst, stehen diese beiden Formen der Arbeit im Kapitalismus in ständiger Spannung zueinander. Kreative, sinnvolle Tätigkeit wird der abstrakten Arbeit untergeordnet, wird diszipliniert zum Zweck der Profitmaximierung: Potentiell selbstbestimmtes Tun versus entfremdete Arbeit.

Diese latente Spannung in eine Revolte zu verwandeln, und zwar in eine, die die ganze Gesellschaft erfasst, ist deiner Ansicht nach, die Motivation aller aktuellen antikapitalistischen Kämpfe. Wie du erklärst, hängt die Zukunft der Welt davon ab, dass es gelingt, diesen vereinheitlichten Charakter der Arbeit aufzubrechen. Ich stimme dieser Argumentation voll und ganz zu, vielleicht weil sie den Bruch verstärkt und weiter führt, den wir 1968 sowohl mit dem Paternalismus als auch mit dem Wirtschaftsmodell der Nachkriegsordnung vollzogen haben.

Aber, während das eine Thema 1968 die Revolte gegen die entfremdete Arbeit war, gab es da noch ein zweites, das ebenso weiter geführt wird, die Revolte gegen eine eindimensionale, auf Wahlen beschränkte Wahrnehmung von Bürgerrechten. Ich fand es inspirierend, wie du Marx‘ Analyse des Doppelcharakters der Arbeit weiterentwickelt hast, um sie auch auf die Doppelnatur der Bürgerrechte anzuwenden. Das führt dazu, dass man auch in den staatlichen Institutionen Sprünge feststellen kann, die wir, im Gegensatz zu dem, was du zu behaupten scheinst, ebenfalls ausweiten können und müssen, wenn wir den Kapitalismus überwinden wollen.

Also: du hast recht mit deiner Analyse des autoritären Charakters der staatlichen Institutionen und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft: wie sie Wirtschaft und Politik voneinander trennen, die Politik von den betroffenen Menschen, die Menschen voneinander und von ihrem sozialen Umfeld.

Wenn wir aber die Analyse über den Doppelcharakter der Bürgerrechte durchführen, dann sehen wir, dass deine Beschreibung nur eine Dimension umfasst, wenn auch die dominantere. Eine solche Analyse würde aber auch bedeuten, dass wir die fragmentierte, abstrakte Natur der Bürgerrechte, die den parlamentarischen Institutionen zugrunde liegt, dem Potential der Bürger als soziale Subjekte gegenüber stellen müssten.

Diese letztere Dimension kam historisch zum Ausdruck in den Kämpfen um das Wahlrecht, wo besitzlose Arbeiter und Frauen sich dafür einsetzten, dass das Wahlrecht universell werden musste. Ein Beispiel aus unserer Zeit könnte sein, dass – auf der ganzen Welt – Menschen die Erfüllung des Versprechens politischer Gleichheit einfordern, indem sie für direktere Formen von Demokratie und Partizipation kämpfen und an Entscheidungen mitwirken wollen, die bisher zwischen politischen und wirtschaftlichen Eliten im Geheimen ausgehandelt wurden. Das war die Motivation für viele Experimente direkter Demokratie, besonders in Lateinamerika.

Wir könnten unterscheiden zwischen dem Staatsbürger als aktivem oder sozialem Subjekt und dem Staatsbürger als isoliertem Individuum. Ein ganz aktuelles Beispiel für diese aktiven sozialen Subjekte sind die Bewegungen, die auch Teile der Gewerkschaften umfassen, die sich auf der ganzen Welt den Privatisierungen widersetzen, häufig mit eigenen, alternativen Vorschlägen dafür, wie öffentliche Dienstleistungen organisiert werden sollten, um der Vielzahl der sozialen Bedürfnisse gerecht zu werden.

Hier organisieren sich Bürger als Subjekte und vergrößern die Kluft zwischen dem Staat als Treuhänder öffentlicher Mittel und dem Drang des Kapitals nach neuen Märkten und neuen Profitquellen. In vielen dieser Bewegungen verbindet sich der Kampf um diese Bürgerrechte mit der Revolte gegen abstrakte Arbeit. Wie sonst könnte man verstehen, was geschieht, wenn sich Arbeiter mit den Nutzern der Dienstleistungen, die sie anbieten, verbünden, um die öffentlichen Dienstleistungen gegen die Ökonomisierung zu verteidigen und zu verbessern (siehe z. B. Trondheim)?

Die Art wie diese Kämpfe und auch die Netzwerke der digitalen Commons manchmal organisiert sind, bringt mich zu einem weiteren Punkt, in dem wir nicht übereinstimmen. Er betrifft deine Abneigung gegen jede Art von Institutionen, deine offensichtliche Weigerung, auch nur zu erwägen, dass verschieden Formen von Institutionen nicht nur möglich sind, sondern auch schon real existieren.

Ich würde gerne, wie du, an das Fließen, den Tanz und die Beweglichkeit der Bewegungen glauben, aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Bewegung Fundamente und Rahmenbedingungen braucht, die von längerer Dauer sind. Der Strom der Bürgerbewegungen gegen die Privatisierung der Dienstleistungen, zum Beispiel, brauchte das Rückgrat, wie es ein Wasser-Aktivist in Uruguay nannte, der Gewerkschaften, die zwei Jahrzehnte davor, im Kampf gegen die Diktatur entstanden waren. Auf ähnliche Weise brauchte das Fließen der Beziehungen in der Freien Software Bewegung den institutionelllen Rahmen, der durch die GNU General Public Licence bereitgestellt wurde.

Ich schließe mit einem Gedanken, der meinem Beharren auf der institutionellen Dimension zugrunde liegt: Es ist sicher wichtig zwischen zwei Ebenen des Sozialen zu unterscheiden: langlebigeren sozialen Strukturen auf der einen Seite und den sozialen Interaktionen und Beziehungen zwischen Individuen auf der anderen.

Während die traditionelle Linke dazu tendierte, nur die Strukturen wahrzunehmen, und Menschen entweder als Träger oder Produkte dieser Strukturen ansah, ohne dabei zu erkennen, dass wir in der Lage sind zu handeln und die Strukturen zu verändern, in denen wir leben, scheint mir, dass du zum anderen Extrem tendierst, nur die Beziehungen wahrzunehmen, und nicht in Betracht ziehst, dass Strukturen einerseits den Menschen vorausgehen, andererseits aber für ihre Reproduktion auf sie angewiesen sind.

Dein Fokus auf den Menschen als Akteur, der Geschichte macht, ist motivierend, denn, da es wir sind, die diese Gesellschaft machen, betonst du mit Recht, dass wir aufhören können, es zu tun und etwas Anderes machen. Aber du bedenkst nicht, dass wir zwar unsere Geschichte machen, aber unter Bedingungen, die wir nicht selbst gewählt haben, wie der alte Mann sagte.

Hilary

Es gibt noch je ein weiteres Mail, da ich aber die nächsten Wochen wenig Zeit vor dem Computer verbringen werde (welches Glück :-)), wird es die Übersetzung wohl erst Ende Mai geben. Wer neugierig geworden ist, kann ja das Original weiter lesen ;-).

3 thoughts on “Crack Capitalism or Reclaim the State? II

  1. Vielen Dank auch für diese Übersetzung!

    Ich habe den Eindruck, dass Wainwright hier nicht zwischen Institution und Staat unterscheidet, sondern das eine fließt ins andere. Was sind Institutionen? Jede Organisation ist eine Institution. Die Frage ist, wem die Institutionen untergeordnet sind: unseren Bedürfnissen (erster Person) oder fremden Interessen (dritter Person).

    Der Staat hat bestimmte Aufgaben und Ziele. Die wesentliche Aufgaben nach, den Markt am laufen zu halten und die Externalitäten (alles, was der Markt als wertlos ausspuckt) abzufangen. Das ist eine fremde Logik. Die Spielräume für Bedürfnisse erster Person sind denkbar gering.

    Können sich Holloway und Wainwright auf Institutionen, also Commons, jenseits von Markt und Staat einigen? (Ich habe nicht weitergelesen)

  2. Seit wann verrät man das Ende einer Fortsetzungsgeschichte ;-)? Nein, tun sie nicht – und das ist auch nicht das Ziel einer solchen Diskussion, darum kann ich es ruhig verraten.

    Für mich ist es kein wünschenswertes Ziel, dass wir alle so lange miteinander reden müssen und so viele Abstriche und Kompromisse machen, dass am Ende eine gemeinsame Position herauskommt. Die wäre dann vermutlich sehr nichtssagend und hätte alles Motivierende, das die einzelnen Positionen haben, weil sie bestimmte Überzeugungen vertreten, verloren.

    Niemand von uns kann wissen, ob seine Position richtig ist. Ich möchte nicht, dass eine neue Position hegemonial wird, die dann wieder alle „glauben“ müssen. Ich finde solche Diskussionen wichtig, erstens um die Argumente und Gründe derer kennen zu lernen, die eine andere Meinung haben als man selber, zweitens, um zu lernen, was andere an der jeweils eigenen Position nicht überzeugend finden und die eigenen Position daran zu schärfen oder eine neue zu entwickeln, falls man noch keine fertige hat und drittens, damit wir verstehen, dass wir alle das gleiche Ziel vor Augen haben, aber unterschiedliche Vorstellungen, wie wir dorthin kommen. Dass wir aber sicher nie dorthin kommen, wenn wir unsere Energie damit verschwenden uns gegenseitig zu bekämpfen. Daher Austausch ja, aber ohne Zwang sich zu „einigen“. Ich hab vor einiger Zeit ein gutes Motto gelesen, unter dem Menschen unterschiedlicher Weltanschauung trotzdem zusammen arbeiten können: we agree, not to agree 🙂

    In diesem Sinne: frohe Ostern!

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