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Individualismus, Solidarität und Platz in den Köpfen

Dieser Artikel ist auch – wenn auch nicht nur – eine ausführlichere Antwort auf diesen Kommentar.

Bei der Ausstellung „Platz da!“ im Architekturzentrum in Wien (übrigens sehr empfehlenswert), gibt es auch eine Hörstation zu Commons. Dort heißt es im Ausstellungstext:

„Ist neben Markt und Staat noch Platz für etwas Drittes, für Formen des solidarischen Wirtschaftens und Lebens? Und ist in unseren Köpfen noch Platz für die Erkenntnis, dass die Entfaltung aller die Bedingung für die Entfaltung des Einzelnen ist?“

Dieser Text bezieht sich natürlich auf ein Marx-Zitat aus dem Kommunistischen Manifest. Das war das erste (und für viele Jahre auch das letzte), was ich von Marx gelesen habe. Denn, bevor dieses angestrebte Ziel erreicht werden kann, weden dort auch weniger hübsche Dinge empfohlen:

„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, … Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht … Expropriation des Grundeigentums … Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen (und das wo ich eine absolute Sympathie für Rebellen hab!) … Gleicher Arbeitszwang für alle, (und das wo ich eine Abneigung gegen jede Art von Zwang hab!)“

Das heißt, bevor wir dieses „Reich der Freiheit“ (das ist jetzt Gramsci) erreichen, müssen wir erst mal durch Despotismus, Gewalt, Zwang, usw. Und auch wenn das manchen von euch nicht gefallen wird, ich sehe darin viele Parallelen zu den Strömungen im Christentum, die immer wieder versucht haben, den Menschen die Unterdrückung in dieser Welt mit dem Versprechen auf das Paradies in einer anderen Welt (die dann praktischerweise in ein Leben nach dem Tod verlegt wurde, weil da musste niemand konkret Verantwortung dafür übernehmen) schmackhaft zu machen. Also, jetzt müssen wir leiden und irgendwann einmal geht’s uns dafür gut. Ich hab also erst mal beschlossen, that’s not my revolution.

Erst viel später hab ich gelernt, dass man mit Marx‘ Theorien auch anders umgehen kann, so wie z.B. John Holloway. Dass die Welt eben nicht so funktioniert, dass es einen Zeitpunkt der totalen – möglicherweise noch gewaltsamen – Umwälzung gibt, und danach kommt die heile Welt. Sondern dass die Welt immer so ist, wie wir sie machen und wenn wir sie verändern wollen, dann müssen wir aufhören, sie so zu machen, wie sie jetzt ist. Die „Revolution“ ist also ein Prozess, der nie aufhören kann, der sich in einer alltäglichen Praxis der Befreiung und der Aneignung unserer Lebensbedingungen gegen den herrschenden menschenverachtenden Mainstream ausdrückt, an vielen Orten der Welt und auf vielfältige Art und Weise und das schaffen wir nur, wenn es uns allen dabei auch gut geht. Ja mehr noch, das Ziel dieser Aktivität muss ja sein, dass es uns besser geht als zuvor, sonst wäre ja all die Mühe sinnlos.

Natürlich bedeutet „besser gehen“ in diesem Zusammehang nicht, dass wir mehr Geld haben, mehr Besitz, einen besseren Job oder dass wir immer in der Sonne liegen und uns die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, oder dass wir alles was uns so in den Kopf kommt, immer gleich haben können. Besser bedeutet „richtiger“. so dass wir das Gefühl haben, wir können selbst über unser Leben bestimmen und wir hindern andere Menschen nicht daran, das auch zu tun und wir zerstören dabei nicht die Umwelt. Wir leben in guten sozialen Beziehungen und können unsere Fähigkeiten entfalten. Wir fühlen uns einfach als „ganze Menschen“, mit allem was uns ausmacht, akzeptiert, Holloway spricht von der Wiedererlangung unserer Würde. Und dass dieses „ganze Leben“ in der Revolution Platz haben muss, soll, denke ich, in dem Zitat zum Ausdruck kommen „If I cannot dance, it’s not my revolution“. „Die Menschenwürde“, schreibt Holloway in seiner poetischen, bilderreichen Sprache in seinem letzten Buch „Kapitalismus aufbrechen“, „ist ein leichtfüßiger Tanz“.

Um wieder auf das Marx-Zitat zurückzukommen: Im Original, zumindest in der Online-Ausgabe, lautet die Stelle etwas anders (Ende Kapitel II):

„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.“

Also, in umgekehrter Reihenfolge und ohne die „Bedingung“, was ja heißen würde, dass das eine vor dem anderen passieren müsse. Und das finde ich eigentlich korrekter, denn beide Dinge passieren gleichzeitig.

Der Platz für diese Erkenntnis muss, so scheint es in den Köpfen beider Seiten erst geschaffen werden. In denen die den Individualismus predigen genau so, wie in denen die bei jedem „ich“ „mein“ oder „Selbst-“ sofort Egoismus und Konkurrenz wittern.

Ich versuche es einmal an Hand der Foodkoop zu erklären. Essen ist ja fraglos eines der wichtigsten Bedürfnisse eines Menschen und die Herstellung und Verteilung von Lebensmitteln ist auch eine der wesentlichen Konfliktlinien der globalisierten Wirtschaft. Ein großer Anteil des Erdöls wird für die Herstellung (Düngemittel, Pestizide, usw.) und den Transport von Lebensmitteln verbraucht. Der Fleischkonsum der Menschen in den Industrieländern ist nur möglich, weil große Mengen an Futtermitteln aus Entwicklungsländern importiert werden, während die Menschen dort zu wenig zu essen haben. Mit Hilfe von GMOs erlangen Pharmakonzerne zunehmend Macht über die Weltproduktion an Lebensmitteln und berauben so indigene Völker der Souveränität über ihre Ernährung. Die Produktion von Agrotreibstoffen führt zu einer Verknappung von Ackerboden für die Lebensmittelproduktion. Industrielle Landwirtschaft zerstört nachhaltig die Böden, vor allem im Süden uns setzt so die Ernährung zukünftiger Generationen aufs Spiel. Es macht also Sinn, die alltägliche „Revolution“ damit zu beginnen, sich das was man isst, auf andere Weise zu besorgen, dabei alternative, nicht-kapitalistische Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten aufzubauen und letztlich diese Trennung ein Stück weit aufzuheben, indem wir eben uns nicht auf die Konsumentenrolle reduzieren lassen, sondern auch aktiv tätig werden. Das ist mühsam, kostet Zeit und Geld. Und wenn am Ende nicht herauskommt, dass das Essen, das wir dann haben, mindestens so gut schmeckt wie das, das wir schnell um die Ecke im Supermarkt kaufen können, dann ist das frustrierend, dann kann man Menschen kaum motivieren, mitzumachen und dabei zu bleiben. Und dann haben wir letztlich unser Ziel auch nicht erreicht, dass das „richtige“ Essen auch das „bessere“ Essen sein muss, ansonsten wäre es nicht die richtige Form des Widerstands gewesen.

Und das geht in dem Ausmaß, wie sich das „Ganze“ entwickelt, also wie wir uns zusammengestritten haben, was wir genau wollen, was uns wichtig ist, wie wir die richtigen Produzenten finden, was ein offener Prozess ist, wie wir die Arbeitsabläufe gut regeln können, usw. Dazu ist es aber notwendig, dass sich alle dafür engagieren, alle ihre Aufgaben übernehmen und gut machen. Nur dann können wir auch das Ziel erreichen, dass unser Essen dann auch wirklich besser ist als vorher, „besser“ jetzt in dieser umfassenden Bedeutung = „richtig“ hergestellt, „richtig“ verteilt und besser schmeckt. Und das erst einmal für jede einzelne Person, die in der Foodkoop mitmacht, weil sie sich sonst die Mühe nicht antut. Wir können mit der Foodkoop nicht dafür sorgen, dass es gutes Essen für alle gibt, das wäre eine Illusion.

Wir können auch nicht die Revolution für andere machen, alle Menschen müssen ihre eigene Revolution machen, dort wo sie Chancen sehen, ihre Lebensqualität zu verbessern und ihre Würde zurück zu erlangen. Aber natürlich kann das auch nicht einer alleine, denn es ist dazu notwendig, dass wir dort, wo wir das erreichen wollen, Regeln und Strukturen schaffen, wo das Wohl jedes Einzelnen positiv mit dem Wohl aller anderen verknüpft ist, und nicht wie am Markt, in Konkurrenz zum Wohl anderer steht. Also, wenn eine Person in der Foodkoop findet, ihre Lebensqualität hat sich dadurch nicht verbessert, dann wird sie nicht mehr mitmachen. Das verringert auch unsere Chancen unsere Lebenssituation zu verbessern, deshalb werden wir versuchen, eine Lösung zu finden, dass es für diese Person auch wieder passt, weil wir wissen, dass unser Wohl vom Wohl dieser Person abhängt.

Interessanterweise ist Elinor Ostrom (und die ist ja nicht verdächtig, Marxistin zu sein) draufgekommen, dass diese positive Verknüpfung des Wohlergehens einzelner mit dem Wohlergehen aller eine der Bedingungen dafür ist, dass Commons überleben können, also, dass Menschen sich die Mühe machen, diese Dinge gemeinsam zu organisieren – weil sie merken, dass sie ihre Bedürfnisse so besser befriedigen können als alleine.

Dazu gehört natürlich erst einmal, dass ich mich selbst spüren kann, was sind meine Bedürfnisse, was sind meine Fähigkeiten, die ich einbringen kann, was sind meine Grenzen? Dazu gehört, dass ich Vertrauen in mich selbst haben kann und Vertrauen zu den anderen, mit denen ich zusammenarbeite. Das sind Dinge, die uns heute sehr schwer gemacht werden. Einerseits, weil wir ja eine ganze Industrie haben, die keine andere Aufgabe hat, als Bedürfnisse zu produzieren, andererseits, weil wir in einer Gesellschaft leben, die nur Leistungen und Fähigkeiten anerkennt, die sich zu Geld machen lassen und die Vertrauen ineinander systematisch untergräbt. Das habe ich gestern in meinem Vortrag bei den Theologen (den Link dahin gibt’s leider nicht mehr) ausgeführt und kommt vielleicht in einem nächsten Beitrag.

Dieses sich selbst spüren und sich selbst vertrauen lernen bedeutet aber nicht Egoismus, sondern ist die Voraussetzung dafür, tragfähige Beziehungen mit anderen eingehen zu können und sich an kollektivien Aktivitäten beteiligen zu können. Und dieses zu den eigenen Bedürfnissen und Grenzen stehen zu können braucht auch andere Menschen, die diese Bedürfnisse und Grenzen auch akzeptieren, weil sie wissen, dass nur dann das gemeinsame Ziel erreicht werden kann. Das ist ein weiterer Aspekt, an dem man sieht, dass sich der und die Einzelne nur mit anderen gemeinsam weiter entwickeln kann.

Ich kenne aus vielen Situationen diese Art von Gruppendruck, dass sich Menschen gegenseitig anfeuern Dinge zu tun, die sie alleine vielleicht gar nicht tun würden, weil eben keiner ein „Feigling“ sein will, weil keiner zugeben will, dass es ihm zu viel ist, dass er Angst hat, dass er nicht richtig findet, was passiert, weil die andern das als Schwäche auslegen würden. Dadurch geschehen Dinge, die eigentlich keiner wollte und die dann in Katastrophen enden, weil Menschen sich nicht getraut haben, zu sich selbst zu stehen, weil das die Gruppenzugehörigkeit gefährdet hätte.

Einen ganz anderen Umgang miteinander habe ich kennen gelernt, als ich bei einer Hausbesetzung dabei war (gut, das vergesst ihr jetzt ganz schnell wieder ;-)). Ich habe dabei erstaunliche junge Menschen kennen gelernt, die mich sehr beeindruckt haben. Sie gingen sehr respektvoll miteinander um, konnten sehr gut auf sich selbst und auf andere aufpassen. Und es war ganz klar, alle mussten für sich selbst wissen, wo für sie die Grenzen waren und alle anderen würden das respektieren. Es gab keinerlei Druck und keinerlei Abwertung der Art, andere als „Feigling“ oder „Spielverderber“ zu bezeichnen. Weil alle wussten, dieses Projekt kann nur gelingen, wenn es für alle Beteiligten „passt“, denn nur dann nehmen sie auch die Unannehmlichkeiten in Kauf und nur dann kann das Ganze gelingen. Auch eine Hausbesetzung bedeutet ein Stück weit Aneignung der eigenen Lebensbedingungen, kollektiv und individuell, und nur wenn das beides gelingt kann es gut gehen.

Also noch einmal der Versuch, es kurz zusammen zu fassen: Nur, wenn für jede und jeden Einzelnen das Leben „richtiger“ wird, durch das was wir gemeinsam tun, dann können wir als Gruppen – und hoffentlich als immer mehr Gruppen – die Welt verändern.

Und weil wir grad bei der Würde und beim Tanzen waren noch eine kurze Kostprobe aus Holloways Buch. Er sagt, es ist möglich, in den Bruchlinien des derzeitigen Systems die Keimzellen eines neuen zu schaffen, er behauptet keineswegs, dass das leicht ist.

„In einer Gesellschaft, die auf ihrer Verneinung gründet. heißt Menschenwürde, am Rand der Enttäuschung entlang zu balancieren.“ Aber:

„Die Brüche sind möglich und machen weitere möglich, weil sie aus Bewegung bestehen. … Unsere Beurteilung, was den Kapitalismus bricht und was ihn ergänzt, ändert sich fortwährend. … Drittens ist es gar nicht schlimm, dass das Kapital die meisten Brüche und Revolten nach einiger Zeit sich assimilieren kann, denn in der Zwischenzeit sind wir schon längst wieder ein paar Schritte weiter. Wir führen den Tanz, das Kapital folgt. Die Menschenwürde ist ein leichtfüßiger Tanz. Und je leichtfüßiger er ist, desto schwieriger ist es für das Kapital Schritt zu halten.“

4 thoughts on “Individualismus, Solidarität und Platz in den Köpfen

  1. Leider ist die Quelle mlwerke.de unzuverlässig, was korrekte Zitate angeht. Wikipedia oder Wikiquote sind bessere Quellen (bzw. für komplette Texte ml-werke.de [mit ‚minus‘ nach ‚ml‘]). Das von dir genannte Zitat enthält tatsächlich eine Bedingung:

    »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.«

    Würde die »Bedingung« fehlen, dann wäre die freie Entwicklung eines jeden identisch mit der freien Entwicklung aller. Das ist mir sehr sympatisch, wäre aber nur für diejenigen verständlich, die keinen formalen, sondern einen dialektischen Identitätsbegriff haben. Formal ist nun mal nicht »eine_r« gleich »alle«. Dialektisch hingegen ist »eine_r« ein Moment von »alle«: in »eine_r« sind immer auch »alle« und in »alle« sind die »einen« — gleichzeitig. Nochmal mit »Mensch« und »Gesellschaft«: Der Mensch ist immer gesellschaftlich und die Gesellschaft ist immer eine menschliche.

    Nun war es Marx und Engels, spekuliere ich mal, zu riskant, die dialektische Formulierung zu wählen, und daher entschieden sie sich für die »Bedingung«, womit sie auf der sicheren Seite waren. Außerdem formulieren sie einen Prozess (»an die Stelle … tritt …«), und da ist eine »Bedingung« für den Übergang sehr hilfreich.

    Es ist interessant, dass tatsächlich im Bewusstsein vieler engagierter Sozialistinnen und Sozialisten der Zusammenhang umgekehrt »gemerkt« wurde. Das beschreibt sehr schön z.B. Stephan Hermlin in »Abendlicht«. Es spiegelt die damalige Theorie und Praxis wider: Erst die »richtige« Gesellschaft aufbauen, dann irgendwann… (die Formulierung »Reich der Freiheit« ist übrigens viel älter, Kant nutzte es, Hegel und auch Marx, also nicht erst Gramsci).

    Wenn heute »konservierte« Sozialist_innen jemand vom Individuum sprechen hören, dann fällt ihnen (nicht zu unrecht) das isolierte Individuum in der kapitalistischen Warenwelt ein. Dem meinen sie dann per »Solidarität« eine Gemeinschaftlichkeit hinzufügen bzw. entgegensetzen zu müssen. Die Gemeinschaftlichkeit oder Gesellschaftlichkeit ist jedoch kein äußerliches Hinzuzufügendes, sondern Teil der menschlichen Natur. Findet es seine Form der Entfaltung, dann kommt es auch voll zur Geltung. Und die Commons leisten genau das: Sie bieten einen Entfaltungsrahmen, in dem die individuelle Entfaltung die Voraussetzung für die Entfaltung aller ist.

    Im Grunde entwickelst du die Argumentation für diese »Bedingung« auch, ich zitiere dich:

    »Nur, wenn für jede und jeden Einzelnen das Leben „richtiger“ wird, durch das was wir gemeinsam tun, dann können wir als Gruppen – und hoffentlich als immer mehr Gruppen – die Welt verändern.«

    Hier nochmal in anderen Worten auf englisch: http://www.keimform.de/2010/what-is-selbstentfaltung/

  2. Danke, Stefan, für Richtigstellungen, Klarstellungen (werde in Zukunft auf den Bindestrich achten, schwierig ist das mit euch Marxisten ;-), ich hatte eigentlich eh beide Links und war der Meinung, das sei ein und das selbe) und für deine wie immer systematischen und klaren Gedanken. Ja, du hast natürlich recht, die Formulierung „nur wenn … dann“ enthält tatsächlich eine Bedingung. Korrekt müsste es also heißen, „wenn es jedem Einzelnen gut geht, dann ist damit automatisch die Bedingung erfüllt, dass es allen gut geht.“ Weil „alle“ ist ja die Summe der Einzelnen. Das ist für eine geschlossene Gruppe wie die Foodkoop eigentlich selbstverständlich, ist allerdings, wenn man die gesamte Menschheit im Blick hat, sicher schwieriger zu fassen.

  3. Danke, Brigitte, für diese ausführliche Antwort auf meinen letzten Kommentar, die vieles klärt und erklärt. Im Anschluß picke ich ein paar Punkte raus wo ich aber anders denke oder was ergänzen möchte.

    Zu Verzicht (den Du im letzten Kommentar angesprochen hast):
    Das ist für mich die negative Sichtweise auf die Änderung eines Lebensstils. Wenn ich z.B. als Fleischesser meinen Ernährungsstil auf vegetarisch umstelle, dann verzichte ich nicht auf Fleisch. Ich verändere meinen Speiseplan in eine sinnvolle Richtung. Ich esse dafür ja mehr andere Dinge und erweitere meinen Speiseplan an anderer Stelle. Das ist aus meiner Sicht der wahre Genuß, wenn ich diese Veränderung durchführe dieses Gefühl der Freiheit. Ich kann jetzt wählen Fleisch zu essen oder auch nicht. Ein Fleischesser muß Fleisch essen weil er zu starr ist seinen Speiseplan zu ändern. Wenn man sich mal in einem Lebensbereich ein Stück befreit hat (z.B.: Ernährung), dann geht es auch in anderen Bereichen (z.B.: Verkehr, Beruf, Freizeitverhalten, Konsum usw) einfacher und man wird immer freier, da man seinen Lebensstil und sein leben immer weiter selbst bestimmen kann. So kann man sich auch davon ein Stück befreien überwiegend für sich alleine zu agieren und solidarischer werden. Womöglich haben viele nicht die Wahl für ihre Interessen oder der der Gruppe zu agieren weil sie zu starr und unfrei sind und eben das egoistische Konzept gewohnt sind.

    Zu Zwang:
    Wenn wir Solidarität üben wollen und damit in den Vordergrund stellen, ist das kein Zwang sondern eine Priorisierung. Solidarität kann man ohnehin nicht durch Zwang erreichen, auch wenn Marx da vielleicht anderer Meinung war. Mir kommt vor in der Foodkoop wird der persönliche Lebensstil nicht in Frage gestellt. Daher kommt es zu folgender Ausrichtung: Auto statt Zug, billig statt solidarisch, Fleisch trotz Klimawandel, Produkte aus aller Welt statt regionales Essen usw. Das ist für mich irgendwie zwanghaft, wenn man so lebt das man seine Lebensgrundlage mit-zerstört und dann nicht mal darüber reden will. Dort erlebte ich den Gruppenzwang eben wieder mit dem Auto fahren zu müssen obwohl es andere Möglichkeiten gab.

    Solidarität vs Individualismus:
    Zum Halbsatz von Elinor Ostrom: „dass Menschen sich die Mühe machen, diese Dinge gemeinsam zu organisieren – weil sie merken, dass sie ihre Bedürfnisse so besser befriedigen können als alleine“.
    Nur die Erfahrung, daß diese Gesellschaft von Individualismus dominiert ist und ein Großteil zurzeit nicht solidarisch ist, heißt nicht das die Revolution so gestaltet werden muß, daß sich Leute mit einer egoistischen Lebenseinstellung dort wohl fühlen.
    Mir kommt vor hier wird kapituliert auf Grund der Erfahrung das Solidarität schwer zu finden ist. Die Utopie nach einer echten Änderung wird aufgegeben.
    Aus meiner Sicht braucht es für eine Änderung des Systems Menschen die sich ändern wollen, und das nicht kategorisch mit Freiheitsansprüchen und wegen der Mühsal ablehnen.
    Absolut gut finde ich aber Deinen Satz: „Nur, wenn für jede und jeden Einzelnen das Leben „richtiger“ wird, durch das was wir gemeinsam tun, dann können wir als Gruppen – und hoffentlich als immer mehr Gruppen – die Welt verändern“.
    Ob mehr Solidarität oder Individualismus ist für mich keine Frage der Moral sondern des Lebenstils und der Kultur.In vielen Lebensbereichen ist Solidarität vor Individualität selbstverständlich und lebensnotwendig (zB.: Nachbarschaftshilfe, Kindererziehung, Notsituationen usw.). Es wird natürlich immer beides nebeneinander Platz haben. Nur zur Zeit ist die Welt so wie sie ist, auch weil die Individualität im Vergleich zur Solidarität eben höher priorisiert wird. Daher macht für mich eine Initiative zur Veränderung nur Sinn wenn dort auch Solidarität geübt wird und nicht die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse als das Ziel formuliert wird. Natürlich soll es allen in der Initiative auch gut gehen und ihre Bedürfnisse wenn möglich auch befriedigt werden, damit sie die Energie haben sich selbst und die Welt zu verändern. Also persönliche Bedürfnisbefriedigung als Mittel und nicht als Ziel. Den dieses Ziel haben ja schon die Shoppingcenter übernommen 😉

    Strukturänderung vs Änderung der Individuen:
    Mir kommt vor unsere Diskussionen haben sehr oft diese Frage im Hintergrund (vielleicht möchtest Du ja dazu auch mal einen Blogeintrag machen 😉 ). Deshalb möchte ich es hier mal direkt ansprechen: Es braucht beides. Ohne Änderung der Strukturen werden wir wohl, wie Du gut erklärt hast, den Kapitalismus jeden Tag neu erschaffen. Aber es darf auch in einer alternativen Bewegung kein Tabu sein die notwendige Änderung der mitwirkenden Individuen zu thematisieren. Wenn sich die Individuen nicht ändern wie sollen sie dann neue Strukturen schaffen, wenn die Strukturelement doch die Individuen sind? Haben wir hier ein „Henne-Ei Problem“?

    Leitsätze:
    Womöglich erscheint es auch etwas pingelig auf diesem Satz (bzw my statt our) so herumzureiten. Nur meine Erfahrungen in der Foddkoop und der Satz haben sich hier ergänzt. Ich finde schön, daß es gutes Essen, bei der Foodkoop zum individuellen Genuß gibt. Außerdem ist es super, daß dort gefeiert wird und mit einer gewissen Leichtigkeit versucht wird hier Alternativen und so eine Änderung zu schaffen. Da, wie Du ausgeführt hast, Revolution ja ein dauerhafter Prozeß ist, soll man während der Revolution gut leben können. Das ist ein wichtiger und notwendiger Nebeneffekt (oder auch Bedingung), welcher auch immer wieder betont werden soll. Das Ziel soll mMn aber sein sich selbst und die Welt ein Stück weit zu verändern. Sonst kann ich in den Bioladen gehen und sonst wo Feste feiern. Das Leitmotto (denn Zweck der Revolution) auf den Nebeneffekt hin auszuformulieren ist irreführend, erweckt eventuell falsche Erwartungen und prägt die Foodkoop dann vielleicht auch weiter in diese Richtung.

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