Einige Stimmungsbilder möchte ich hier einfangen aus dem Alltag in der befreiten Vorklinik in Graz. Das ist ein Gebäudetrakt in dem links und rechts der Eingangshalle drei Hörsäle liegen, darunter einer der größten der Uni, in dem viele Vorlesungen der Studieneingangsphase verschiedener Institute abgehalten werden. Zumindest normalerweise – derzeit finden sie in den Sälen des UCI Kinos statt, denn die Vorklinik ist der Schauplatz der Studierendenproteste an der Grazer Uni.

In der Eingangshalle eine Sitzgruppe, fast immer voll besetzt, einige essen, einige stricken, jemand spielt auf der Gitarre, es wird eifrig diskutiert und viel gelacht. Beim Stand der Volksküche steht der Topf mit Essen, am Tisch davor Brot, Obst, Getränke. Einige Leute, von denen manche sicher keine Studierenden sind, sind mit dem Geschirr beschäftigt. Beim Infostand liegen nicht nur die aktuellen Programmflyer sondern auch die neue Zeitung „Die Befreierin“ und verschiedene Infomaterialien von den anderen besetzten Unis. Meist ist dort auch der oder die jeweils zuständige Securitymitarbeiter/in zu finden und oft stehen Kinderwägen dort und manchmal krabbeln Kinder zwischen all den Menschen herum.

Alle drei Hörsäle sind nach wie vor besetzt und werden auch intensiv bespielt. Es gibt ein bunt gemischtes Programm mit Vorlesungen, Workhops und Kulturveranstaltungen. Viele Lehrende halten sogenannte Soli-Lectures ab, auch WissenschaftlerInnen von anderen Universitäten sprechen hier, KünstlerInnen und AutorInnen treten auf und abends gibt es oft Konzerte oder DJs. Aber auch zum Lernen und Arbeiten werden die Räume genutzt. Auf den freien Flächen in den Hörsälen liegen Matratzen, Polster, Decken und Schlafsäcke, die nicht nur für die Übernachtung verwendet werden, sondern auch zum Entspannen zwischendurch. Sogar Massage wird hier angeboten. Und Plakate erinnern daran: „Schlafen – wichtig!“ und „Lachen – wichtig!“

Das Reinigungspersonal ist ganz begeistert von den jungen Leuten hier, es ist viel sauberer sagen sie, als bei normalem Vorlesungsbetrieb. Und eines stimmt auf jeden Fall, seitdem die Uni besetzt ist, gibt es auch nachmittags noch Klopapier ;-). Es gibt eine ziemlich strikte Hausordnung, Rauchverbot, Beschränkungen für Hunde, alle bemühen sich, die Räume sauber zu halten und es funktioniert. Eine junge Security-Frau, mit der wir gesprochen haben, ist ebenfalls positiv überrascht. Sie sagt, sie ist auch Notfallsanitäterin und bei Einsätzen bei Unfällen sieht sie so oft, dass Menschen daneben stehen und Fotos machen, während andere sterben, anstatt einzugreifen. Sie findet es ganz großartig, dass junge Menschen Dinge selbst in die Hand nehmen, sich engagieren, Verantwortung übernehmen. Brav sind sie alle, so ist der allgemeine Tenor. Nun ist „brav“ nicht unbedingt ein Attribut, das eine Protestbewegung sich wünschen sollte. Ich denke allerdings, dass dieses „brav“ weniger über die Bewegung aussagt, als vielmehr Ausdruck der Überraschung ist, dass ohne Druck, ohne Kontrolle, ohne Regelung von oben, nicht alles im Chaos versinkt, dass protestierende Menschen nichts zerstören, sondern im Gegenteil, manche Dinge besser funktionieren als vorher. Das ist in Österreich immer noch schwer vorstellbar – wo kämen wir denn hin, wenn alle täten was sie wollen? Aber warum sollten wir zerstören, was uns stark macht – Räume zur Selbstorganisation. Und – auch das muss erwähnt werden – dass es in Graz so gut läuft, ist nur möglich durch die stillschweigende Unterstüzung von Seiten der Unileitung und vieler Institutsleitungen. Selbstorganisation braucht entsprechende gesellschaftliche Rahmenbedingungen und die werden hier gewährt – noch. Und dafür müssen wir kämpfen, dass das auf Dauer gestellt wird, auch wenn die Besetzung irgendwann einmal vorbei sein wird.

Natürlich sind nicht immer alle Hörsäle voll, manche Redner sprechen nur vor wenigen Menschen und manche Arbeitsgruppe ist immer wieder von Mitgliederschwund betroffen. Die Studierenden müssen ja auch an Vorlesungen teilnehmen, für Prüfungen lernen und Referate vorbereiten. Andererseits kommen inzwischen auch viele andere Menschen hier her. Arbeitslose und PensionistInnen, die sagen, so ein interessantes, politisches Veranstaltungsprogramm hätten sie sich schon immer gewünscht. Und beim Kochen, Putzen und Geschirr abwaschen arbeiten längst auch andere Universitätsbedienstete mit. Zwei Postbeamte, die einmal hier übernachtet haben, weil sie ihren letzten Zug versäumt haben, kommen auch immer wieder vorbei. Auch Menschen von Organisationen außerhalb der Uni nutzen die Räume für Arbeitstreffen. Und bei besonderen Anlässen, bei zugkräftigen Programmpunkten, füllen sich die Hörsäle und vor allem auch dann, wenn die Aktionsgemeinschaft, die ÖVP-nahe Fraktion der ÖH, wieder einmal einen Versuch plant, die Vorklinik von den BefreierInnen zu befreien. Einige SMS, einige Facebook oder Twitter Nachrichten und alle sind zur Stelle, um die Störenfriede abblitzen zu lassen. Nicht etwa mit Gewalt, sie lassen sie im Plenum sprechen, aber ihre Anträge werden niedergestimmt. Sie lassen sie sprechen und beschäftigen sich dazwischen mit wichtigeren Dingen. Sollen die doch reden, wir tun was.

Gegen Abend füllt sich die Vorklinik jedoch fast immer, beim Plenum wird eifrig diskutiert, Arbeitsgruppen treffen sich. Und immer öfter wird die Meinung laut, die Forderungen müssten sich auch auf Bereiche außerhalb der Uni richten, diese Bewegung hier sollte sich klar als Teil einer gesellschaftlichen Bewegung deklarieren. Aber es gibt auch Gegenmeinungen – die Angst, man könnte sich verzetteln, die Angst, man könnte diejenigen Studierenden verlieren, die nur wegen besserer Studienbedingungen dabei sind und auch die Angst, die Unterstützung der Medien und der Öffentlichkeit zu verlieren. Dass wir gute Studienbedingungen wollen, das verstehen viele, der Wunsch nach Gesellschaftsveränderung könnte nicht so gut ankommen.

Schließlich gründen wir eine Arbeitsgruppe dazu. Ich hab mit einigen anderen Leuten schon vor einiger Zeit im Audimax in Wien einen Workshop zu diesem Thema gemacht und auch dort hat sich eine Gruppe gebildet, die sich mit der Rolle der Universität in der Gesellschaft beschäftigt und damit wie eine solidarische Universität ausschauen könnte. In unserer Gruppe waren von Anfang an etwa 15 Personen, Donnerstag beim Plenum haben wir unsere ersten Vorschläge dazu eingebracht und zu unserer Überraschung gab es keine grundsätzliche Gegenstimme. Es gab zwar noch immer einige, die meinen, wir sollten uns auf unsere „Kernkompetenzen“ beschränken und wir könnten doch keine Forderungen für andere Leute stellen, deren Bedürfnisse wir nicht kennen. Unsere Antwort ist so einfach wie stichhaltig: Wir stellen keine Forderungen für andere Menschen, wir alle haben ja ein Leben außerhalb der Uni, viele Menschen die hier sitzen, arbeiten zumindest teilweise, viele sind gar keine Studierenden, manche sind arbeitslos, auf fast alle warten nach Beendigung des Studiums prekäre Arbeitsbedingungen. Wir fordern nicht für „die anderen“, wir fordern ein besseres Leben, bessere Arbeitsbedingungen, mehr soziale und ökonomische Sicherheit, mehr demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten für alle Menschen in allen Bereichen der Gesellschaft und damit auch für uns. Dann können sich auch alle anderen gesellschaftlichen Gruppen, die hier ohnehin schon aus und ein gehen, damit identifizieren.

Andere berufen sich darauf, dass ja vor einigen Wochen der Beschluss gefasst wurde, keine weiteren Forderungen mehr aufzunehmen. Ein Kollege kontert: „Plenumsbeschlüsse muss man auch wieder ändern können, denn wenn wir uns nicht bewegen, dann hören wir auf, eine Bewegung zu sein!“ Wieder andere haben Angst davor, „politisch“ zu werden, es sei doch gerade die Stärke der Proteste, dass sie bisher unpolitisch seien. Sie meinen vermutlich parteipolitisch, können das aber nicht wirklich trennen und allein schon der Begriff „politisch“ scheint etwas zu sein, was für manche fast unanständig ist. Ein Mädchen antwortet klipp und klar: „Da muss ich euch enttäuschen, ihr seid schon politisch!“. Und schließlich die Wortmeldung: „Wieso habt ihr eigentlich solche Angst davor zu sagen, dass wir links sind?!“ Gegen die Befürchtung „Wenn wir zu viel fordern, dann nimmt man uns nicht ernst und diese Forderungen sind utopisch, wir haben keine Chance, das zu verwirklichen“ steht die Meinung „Die Uni-Forderungen alleine zu verwirklichen, ohne gesellschaftliche Veränderungen, ist noch utopischer, es gibt keine richtige Uni in der falschen Gesellschaft. Jetzt haben wir die einmalige Chance, wenn wir jetzt nicht Druck machen, ist die Chance vorbei“. Ohne Gegenstimme mit nur einigen Stimmenthaltungen werden unsere Vorschläge schließlich angenommen und wir bekommen den Auftag, die Forderungen zu konkretisieren, vor allem auch Menschen aus anderen Teilen des Bildungssystems einzubeziehen. Und auch der Ruf wird laut, wir sollten wieder aktiver nach außen gehen, damit viele Menschen merken, dass wir noch da sind, wir sollten Aktionen machen, andere Orte besetzen, andere Räume uns aneignen. Und was wir auch noch durchbringen wollen: dass dieses Wissen, das hier erworben wird, als prüfungsrelevant anerkannt wird. In Wien gibt es diesbezüglich schon die Zusicherung von mehreren Fakultäten. Und wie es der Zufall so will taucht am nächsten Tag eine Pädak-Studentin bei uns auf, möchte auch gerne mitmachen.

Und die Realität hat diese Diskussionen ohnehin längst überholt. Nachdem die Besetzung begonnen hatte, gab es in den ersten Tagen Gespräche mit den MitarbeiterInnen des Reinigungsdienstes und mit den Angestellten des Sicherheitsdienstes über deren Arbeitsbedingungen. Ein Beispiel machte die Runde: es gibt ein Einsatzgebiet im Süden von Graz, bei dem die Wachleute eine Runde von 5 km gehen müssen und das acht Mal am Tag. Mit einem elektronischen Gerät wird an verschiedenen Stellen ihre Anwesenheit registriert, so dass kontrolliert werden kann, ob sie wirklich an jeder Stelle acht mal waren. Das bedeutet, dass diese Leute in ihrem Acht-Stunden- Arbeitstag 40 km zurücklegen, dafür haben sie am Monatsende weniger als 1000 € am Konto. Alle sagen, wir kämpfen auch für diese Leute und für die vielen anderen, die unter solchen Bedingungen arbeiten müssen.

Aber auch an der Uni selbst sind prekäre und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse die Regel. Darum hat sich auch eine Gruppe von Lehrenden gebildet, die den Protest unterstützen, eigene Forderungen gestellt haben und auch oft hier anzutreffen sind. Bei einem Mittagessen mit einigen Kolleginnen vom Institut, die dort Dissertantinnenstellen haben, wurde das wieder sehr deutlich. Angeboten wurden die Stellen so: Projektmitarbeit und Zeit für die eigene Forschungsarbeit, die aus dem Projekt entstehen soll. Die Realität schaut anders aus. Zur Projektarbeit bekamen alle noch mindestens zwei Lehrveranstaltungen zugeteilt. Lehre und Projektarbeit lassen keine Zeit für die eigene Dissertation. In den nächsten Monaten laufen alle Verträge aus, die Möglichkeit zu weiterer Anstellung gibt es nicht – ihr könnt ja eh Arbeitslosengeld beziehen, wurde ihnen beschieden. Nur, wenn sie jetzt einen Job suchen müssen, dann bleibt die Dissertation wohl für immer auf der Strecke. Billige Arbeitskräfte für die Universität, Frust bei jungen, engagierten Menschen, die sich übervorteilt und ausgebeutet fühlen. Jetzt soll die nächste Generation verheizt werden. Keine Chance für langfristige wissenschaftliche Arbeit an einem Thema, erworbenes Wissen geht verloren. Eine von ihnen arbeitet in der Lehrenden-Protestgruppe mit. Sie möchte die anderen auch motivieren. Ja, meint eine Kollegin, du hast recht und ich würde auch gerne mitmachen. Aber ich habe einfach nicht die Zeit dazu, der Projektendbericht, die Lehre und dann gibt es ja auch noch ein Familienleben. Auf diese Weise werden Menschen so unter Druck gesetzt, dass sie nicht einmal die Zeit, geschweige denn die Energie haben, sich zu wehren.

Raum und Zeit um die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und sich gemeinsam mit anderen zu organisieren, um unser Lebensumfeld aktiv mit zu gestalten, demokratische Mitbestimmungsmöglichkeit in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen, das fordern wir für alle Menschen, nicht nur für die Universitäten und dazu die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die wir dafür brauchen, soziale und ökonomische Absicherung.

Was für ein Glück, dass ich gerade jetzt nicht arbeiten muss, dass ich Zeit habe, hier dabei zu sein. Neben allem was sonst noch zu erledigen ist, bedeutet es trotzdem, wie vermutlich für fast alle hier, chronischen Schlafmangel. Was soll’s, schlafen kann ich noch mein ganzes Leben. Und die Zeit vergeht wie im Flug. Fünf Wochen ist die Vorklinik jetzt schon befreit und es gibt noch keine Anzeichen für ein Ende.

Freitag früh war ich beim Zahnarzt. „Frohe Weihnachten“ sagte die Ärztin beim Abschied zu mir. Wie bitte? Wo ist bloß die Zeit hingekommen? Es kommt mir vor als wäre ich gerade erst zurückgekommen. Später, am Markt, überall Gestecke und Adventkränze. Ja, morgen ist tatsächlich der erste Adventsonntag. Seit ich in Graz bin, habe ich keinen Adventkranz mehr gehabt. Aber irgendwie – Advent bedeutet doch so etwas wie Aufbruch, bedeutet, dass ganz unverhofft eine bessere Welt, ein gutes Leben, in den Bereich des Möglichen gerückt ist. Also steht seit gestern ein Adventkranz auf meinem Küchentisch und symbolisiert gesellschaftliche Aufbruchstimmung :-).