(*copyright bei den Studierenden der TU Graz)
Donnerstag, 5. Nov, Bildungsaktionstag in Österreich, 15.30, Jakominiplatz. Menschenmassen warten auf die Busse des Schienenersatzverkehrs, die meisten Straßenbahnen sind wegen der Demonstration und den verschiedenen Aktionen eingestellt, der einsetzende Abendverkehr verschärft die Situation. Im Postamt schimpfen die Menschen. Ein Postangestellter meint, wer das genehmigt habe, um diese Zeit, der müsse wohl verrückt sein. Die sollen am Samstag demonstrieren oder am Sonntag. Der gute Mann hat eine zu hohe Meinung von der Macht der Obrigkeit – Demonstrationen müssen angemeldet, aber nicht genehmigt werden, sie dürfen nur unter wenigen Ausnahmebedingungen untersagt werden. Wenn Protest immer von der Erlaubnis derer abhinge, gegen die er sich richtet, wäre er von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Demonstrationsfreiheit gehört seit 1867 zu den österreichischen Grundrechten.
Aber auch diejenigen, die dem Protest wohlwollender gegenüber stehen, verstehen meist nicht worum es geht. Mehr Geld und bessere Studienbedingungen, das sind die Forderungen, die in der Öffentlichkeit ankommen und je nach politischer und sozialer Position entweder als berechtigt oder unberechtigt beurteilt werden. Mehr Geld und bessere Bedingungen, damit alle schneller studieren können, um schneller, besser qualifiziert und wettbewerbsfähiger in die berufliche Karriere starten können. Das können alle nachvollziehen.
Wenn man aber die Forderungen anschaut, die die AktivistInnen im Audimax in einem demokratischen Prozess erarbeitet haben, spielt Geld dabei eine eher marginale Rolle. Es geht um Bildung statt Ausbildung, um selbstbestimmtes Lernen, um selbstorganisierte Unis um den Raum, Dinge anders zu denken, den Raum neue Dinge zu denken. Es geht darum, die Universitäten denen zurückzugeben, die in ihnen arbeiten.
PolitikerInnen, Medien und auch die VertreterInnen der Aktionsgemeinschaft, offenbar schon so in die Machtstrukturen integriert, dass sie auch nicht mehr daran vorbei denken können, sind hilflos im Umgang mit dieser Art des Widerstandes. Sie haben keine Antworten auf diese Fragen, deren Bedeutung sie nicht erfassen können und sie meist irgendwie als linke Hirngespinste einiger radikaler Minigruppen abtun.
Und in den Unis passiert ja wirklich Ungeheuerliches – die haben keine Anführer, die diskutieren über alles stundenlang und jeden Tag haben sie andere Sprecher. Den gelernten Österreicher packt da das blanke Entsetzen – dürfen’s denn des?! Und es kommt noch schlimmer – sie haben gar nicht gefragt, ob sie dürfen, sie haben einfach damit begonnen es zu tun, sich ihre Uni selbst zu organisieren.
Der Jugendforscher Philipp Ikrath meinte im Standard am Mittwoch, da hätten sie in Verhandlungen die schlechteren Karten, es müsste legitimierte Vertreter geben. Auch er hat nicht verstanden, dass es hier nicht um Verhandlungsmacht im System geht. Es geht vielmehr darum, ein anderes System zu entwickeln, im Hier und Jetzt. Schon nach wenigen Tagen erfolgte der Begriffswechsel – von der „besetzten“ zur „befreiten“ Uni – das war der Schritt vom Verhindern zur Selbstätigkeit. Die befreite Uni ist ein Gemeingut der Studierenden, die sie immer neu herstellen und erhalten müssen, die Regeln für ihr Funktionieren erst neu entwickeln müssen. Auch hier wieder die Spuren des Neuen in der Bewegung?
Mehr Geld für die Forschung und Lehre an den Universitäten ist eine legitime Forderung, wenn man bedenkt, dass Österreich gerade einmal gut 1% des BIP für Bildung ausgibt. Das fordert mittlerweise sogar die OECD – hat aber bisher auch nichts geholfen. Dass man freie Bildung fordern kann, unabhängig von Verwertungszwang und Humankapitalzuwachs, die Freiheit, sich sein Studium selbst zu gestalten, unabhängig vom Bedarf der Wirtschaft (der meist ohnehin nicht so genau vorausgesagt werden kann), den Raum die etablierten wissenschaftlichen Theorien und Konzepte kritisch zu hinterfragen, das erscheint im Zeitalter des unternehmerischen Selbst beinahe schon undenkbar.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen den Forderungen innerhalb des Systems, die es funktionsfähiger machen sollen, funktionsfähiger vor allem in seiner Aufgabe der Produktion von Humankapital für die wirtschaftliche Verwertung und den Forderungen, die über das System hinausweisen, prägt diesen Protest ebenso, wie alle anderen Gruppen und Projekte, die Neues im Alten leben wollen. Der Umgang mit diesem Spannungsverhältnis entscheidet über Erfolg oder Misserfolg, das ist die große Herausforderung vor der wir im Moment stehen und für die es keine fertigen Lösungen gibt.
Einen Erfolg gibt es jedenfalls: Die Diskussion um die Universitäten ist endlich doch losgetreten, lange genug hat es gedauert, ein Tropfen hat das Fass zum überlaufen gebracht – die Einführung von Bacchalaureatsstudien an der Kunsthochschule in Wien. Die Woge der Proteste hat sich schnell über ganz Österreich ausgebreitet. In Innsbruck sind 700 Menschen in den besetzten Hörsaal gekommen um einer Störaktion der AG zuvorzukommen und haben diese ganz demokratisch ihren Antrag stellen lassen auf Beendigung der Besetzung – um sie mit einer vernichtenden Mehrheit niederzustimmen. In Wien haben Studierende und Lehrende das Bildungsministerium besetzt – und ganz schnell wieder vergessen, auf welchem Weg sie hineingekommen waren – hinaus wurden sie von der Polizei begleitet um weiteren Anfällen von Amnesie vorzubeugen. Und sogar in Deutschland beteiligen sich einige Unis am heutigen Aktionstag. Studentenproteste, die aus Österreich auf Deutschland übergreifen – so etwas hat doch die Welt noch nicht gesehen ;-). Die Uni in Münster wurde leider am Samstag von der Polizei geräumt.
Ob es bei der Diskussion um Finanzierung und Zugangsbeschränkungen bleiben wird, oder auch die Mitbestimmungsfrage auf der Agenda bleibt? Ob sich die Studierenden nach dem Ende der Proteste selbstorganisierte Freiräume bewahren können? Ob die Proteste eine breitere gesellschaftliche Schicht erreichen können, oder auf die Unis beschränkt bleiben? SchülerInnen, PensionistInnen, GewerkschafterInnen haben sich solidarisch erklärt, von eigenen Aktivitäten merkt man noch wenig, wenn auch einige Gewerkschafter bei der Demo mitgegangen sind. Gelingt es die selbstorganisierten Gruppen an den Unis mit anderen lokalen Gruppen zu vernetzen und den Wissensaustausch zwischen drinnen und draußen herzustellen?
Oder wird nach einiger Zeit wieder alles weitergehen wie bisher – wie nach dem angeblichen Ende der Krise – Business as usual? Qualifizierung für den Beruf in verschulten Studiengängen, Wettkampf um Seminarplätze und Diplomarbeitsbetreuer, Ellbogentechnik, Scheine sammeln ohne links und rechts zu schauen, lernen ohne zu denken, Forschen, ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Wirkungen? In gut einem Monat ist die große Klimakonferenz in Kopenhagen, das sollte der Protestbewegung einen neuen Impuls geben. Wenn die Politisierung bis dort hin anhält, stehen die Chancen gut, dass sie noch weitergeht.
Und von den Studierenden kommen Signale in Richtung einer Verbreiterung der Bewegung, einer Solidarisierung mit anderen sozialen Gruppen. Den „Kindergartenaufstand“ wollen sie unterstützen – genau genommen war ja das schon ein Signal, eine Berufsgruppe, von der man Rebellion am wenigsten erwartet hätte, hat zu öffentlichen Mitteln des Protests gegriffen – und sich mit den Metallern und Druckern bei den Kollektivvertragsverhandlungen solidarisieren.
Und heute, Samstag kam dann ganz unerwartet auch noch die EU ins Spiel. Ein paar Leute auf der Uni beschäftigten sich mit dem Bologna-Abkommen, weil dieses ja immer als Vorwand für alles genommen wird, was in den letzten Jahren im Universitätsbereich verändert wurde. Sie hatten sich das Abschlusscommuniqué der Wissenschaftsminister von der letzten Bolognakonferenz runtergeladen – und sie machten eine erstaunliche Entdeckung: was da drinnen steht, und Minister Hahn auch unterzeichnet hat, gleicht fast aufs Haar ihren Forderungen! Da wird nicht nur für ausreichende Finanzierung plädiert, sondern auch von Freiheit der Lehre, Autonomie und Demokratie ist die Rede.
„The aim is to ensure that higher education institutions have the necessary resources to continue to fulfil their full range of purposes such as preparing students for life as active citizens in a democratic society; preparing students for their future careers and enabling their personal development; creating and maintaining a broad, advanced knowledge base and stimulating research and innovation. The necessary ongoing reform of higher education systems and policies will continue to be firmly embedded in the European values of institutional autonomy, academic freedom and social equity and will require full participation of students and staff.“
Der Verblüffung – „das ist ja total links!“ (stimmt natürlich so nicht, es baut einfach auf einem aufgeklärten Menschen- und Gesellschaftsbild auf, das sich in Österreich immer noch nicht ganz durchgesetzt hat) – folgte der Zorn. Der Hahn lügt uns an, er sagt in Brüssel was Anderes als bei uns, und was da mit den Unis passiert, das hat mit Bologna nichts zu tun! Wie lange hatten wir versucht, das zu vermitteln! Dass nicht alles was von der EU kommt neoliberal ist, dass es viele gute Ansätze gibt, diese auf Grund der Machtverhältnisse aber nicht umgesetzt werden, dass es möglich wäre, sich darauf zu berufen, „die EU“ für unsere Zwecke einzusetzen. Aber es müssen anscheindend alle selbst drauf kommen. Bin gespannt, wie sich das entwickelt – wenn plötzlich die Studis auf die Umsetzung des Bologna-Prozesses pochen oder wenn zumindest eine Diskussion darüber entsteht, wer denn jetzt für die „richtige“ Umsetzung ist :-).
Aber auch außerhalb der Universität geschehen erstaunliche Dinge. Innerhalb einer Woche wurden zwei Studien von alternativen, von NGOs getragenen Forschungseinrichtungen (an beiden ist attac beteiligt) in allen, auch den konservativen Mainstreammedien, ausführlich behandelt. Erst die Untersuchung des Tax Justice Network über die instransparentesten Finanzplätze der Welt, in der Österreich eine Spitzenposition einnimmt, jetzt die von ALTER-EU über den Einfluß der Finanzindustrie auf die europäische Gesetzgebung. Untersuchungen wie diese gab es schon des öfteren, sie blieben aber unter der gesellschaftlichen Wahrnehmugsschwelle. Bahnt sich hier eine Schwächung der hegemonialen Definitionsmacht an?
Schneller als erwartet hat sich das „Unterwegssein“ von der geografischen auf die symbolische Ebene verlagert, tun sich wieder Perspektiven auf in einer Gesellschaft die von Resignation und Lethargie geprägt schien. Wie bei der „richtigen“ Wanderung gibt es kein Ziel aber eine Richtung, im Unterschied dazu gibt es hier keine Karten und keine Reiseführer, dafür Weggefährten und Gleichgesinnte. Da kann ich nur meinen Aufruf wieder holen: andiamo insieme :-)!
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ja, danke, brigitte, für deine speziellen infos. ich hänge mich ja bei http://www.unsereuni.at rein, um informiert zu sein, aber der absatz aus dem bologna-prozess ist schon eine feine sache. eh ein alter hut: neues entsteht aus den widersprüchen.
lg erna
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