Die Rolle von Religion in der Gesellschaft wurde ja lange als nicht mehr relevant erachtet, sie wird jedoch heute wieder verstärkt diskutiert. Zwar ausgehend vom Islam, aber dadurch kommt es auch immer wieder zu Fragen die christliche Religion betreffend, ob sie noch zeitgemäß sei und welchen Platz im öffentlichen Raum sie haben sollte. Dazu kommen die 500-Jahr-Feiern der Reformation dieses Jahr, die unter dem Motto „Freiheit und Verantwortung“ stehen und speziell den Impuls der Modernisierung betonen, der von der Reformation ausgehend, bis heute spürbar sein soll. Die von mir ansonsten sehr geschätzte Isolde Charim stellt in der taz Überlegungen an, inwieweit Religionen mit der Moderne vereinbar sein können, bzw Modernisierung sogar vorantreiben können. Trotz positiver Beispiele, wie etwa der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin kommt sie zu dem Schluss:

Es steht zu befürchten, dass jede Religion in ihrem Innersten nur bedingt reformierbar ist. Religion ist kein Vehikel der Moderne, der Toleranz, der Liberalität.

Und da möchte ich nun doch Widerspruch einlegen, und zwar mit drei Argumenten:

Gleichsetzung Religion und Kirche

Erstens setzt Frau Charim offensichtlich Religion mit Kirche gleich. Kirchen als relativ mächtige, oft mit politischer Macht versehene Organisationen sind natürlich hierarchisch organisiert und widersetzen sich tatsächlich oft möglichen Veränderungen, vor allem, wenn sie ihre Macht gefährden könnten – wie es auch viele andere alteingesessene Organisationen tun, wie etwa die ÖVP-Bünde oder auch viele Gewerkschaften. Religion als kollektive Praxis jedoch ist – wenn sie weiter bestehen will – sogar darauf angewiesen, sich an gesellschaftliche Entwicklungen anzupassen. Von daher kommt es häufig zu Konflikten zwischen den Kirchen als Institutionen und den Menschen an ihrer Basis, die ihre Religion im Alltag leben müssen und wollen. Wenn dann jemand wie der aktuelle Papst an die Spitze einer solchen 1500-jährigen Organisation kommt, der den Veränderungswillen von der Basis – oder in dem Fall eher von der Peripherie – mitbringt, kann eine solche Organisation ganz schön unter Druck kommen.

Über lange Zeit gab es nichts außerhalb der Religion

Zweitens ist da die historische Perspektive: bis von ca 250 Jahren war Religion das einzige Welterklärungsmodell, es gab kein Außerhalb. Sowohl die Herrschaftstechniken als auch die Widerstände dagegen begründeten sich aus den gleichen Schriften. Religion war also bis vor historisch kurzer Zeit immer auch Treiber von „Modernisierungsbewegungen“, wenn es auch den Begriff damals noch nicht gab. Als die bedeutendsten würde ich die Entstehung des Monotheismus, dann die des Christentums und schließlich die Reformation bezeichnen. Bei der Entstehung des Christentums ging es um eine Überwindung des Opferkults, eine Abwendung vom Bild des strafenden Gottes, der Verehrung und Opfer verlangt, hin zu persönlicher, individueller Ansprache und dementsprechend Verantwortung. Mit der Entstehung einer institutionellen Kirche und vor allem durch die Einführung des Staatskirchentums durch Kaiser Konstantin ging dieser Aspekt weitgehend verloren. Doch schon kurz danach entstanden verschiedene Bewegungen, die sich genau diesen Machtansprüchen widersetzten und die Rückkehr zum wahren Christentum forderten. Die Bewegung, die nahezu schon genau so lange existiert wie die römische Amtskirche, ist die Mönchsbewegung. Klöster gibt es bis heute und ihr Tradition erlangt gerade durch den neuen Trend zur Gemeinschaftlichkeit wieder mehr Bedeutung. Religionen beherrschen eine seltene Kunst: sich zu modernisieren, indem sie sich ihrer Wurzeln besinnen, diese aber in den Kontext ihrer Zeit stellen.

Die Reformation schließlich war ein Modernisierungsschritt par excellence: Individualismus, persönliche Freiheit und Verantwortung, Erfüllung des „Gottesdienstes“ in dieser Welt, Priestertum jeder und jedes Getauften, die Betonung der Bildung – all das war noch nicht die Aufklärung, aber ein wichtiger Schritt dorthin. Und die Reformation war schließlich modern genug, um dem Kapitalismus den Weg zu ebnen. Die Unterschiede in Bezug auf Bildungszugang oder Respekt vor Obrigkeiten zwischen katholischen und protestantischen Ländern erkennt man tatsächlich bis heute.

Der fundamentalistische Islam als Phänomen der Modernisierung

Ein kurzer Abstecher zum Islam, der ja immer als besonders modernitätsfeindlich gilt und sich heute wohl auch gibt: Thomas Bauer zeichnet in seinem Buch „Eine Kultur der Ambiguität“ ein anderes Bild. Der islamische Fundamentalismus sei nicht Modernitätsverweigerung, sondern gerade ein Produkt der Auseinandersetzung des Islams mit der europäischen Aufklärung, die auch noch mit dem Vehikel des Kolonialismus dorthin kam. Die Reaktion darauf war entweder Annahme des westlichen Denkmodells oder die Entwicklung einer philosophisch gleichwertigen Alternative, nämlich ein eigenes „einzig richtiges“ Welterklärungsmodell. In der Geschichte des Islam gab es davor immer mehrere Sichtweisen gleichzeitig. Nicht dass es darüber nicht zu Kämpfen gekommen wäre, einige der bedeutendsten spielten sich sogar in Europa ab, aber trotzdem blieb der Spielraum der Interpretation vorhanden, Toleranz und Liberalität wurden immer wieder gelebt, Wissenschaft wurde vorangetrieben, fremde Kulturen nicht zerstört, sondern in die eigene integriert.

Ein interessantes Argument: gerade eine Schrift, die beansprucht, für alle Zeiten gültig zu sein, muss die Möglichkeit bieten, dass sich jede Generation erneut fragt, was ihr diese Schrift zu sagen hat. Und jede neue Interpretation gilt als Bereicherung, als weiterer Schlüssel zum Wort Gottes, das dem Menschen ohnehin nie ganz erschließbar ist. Das gleiche gilt auch für das Christentum, auch wenn es hier nicht immer um wörtliche Auslegung geht. Wie schon angedeutet: Religionen konnten nur Jahrhunderte und sogar Jahrtausende überleben, weil sie in der Lage waren, sich selbst immer wieder zu modernisieren.

Religion als Vermittlerin zwischen alt und neu?

Und nun zum Dritten: was kann das für unsere heutige Zeit bedeuten? Warum ist die Religion nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden, obwohl das allgemein erwartet wurde? Und welche Rolle kann sie heute noch spielen? Auch dazu kommt ein wichtiger Denkanstoß von Thomas Bauer. Er bezeichnet, von einer globalen Perspektive ausgehend, die europäische Denkweise als „Sonderweg“. Ausgehend von den Griechen und vervollkommnet durch die Aufklärung ist in Europa klar: die ganze Welt ist rational erklärbar, verstehbar und damit auch verfügbar. Es gilt nur, was man messen kann und es kann immer nur genau eine richtige Erklärung geben. Diese Art zu denken, hat Europa eine Vormachtstellung in der Welt eingebracht, allerdings, wie wir heute wissen, auch viele negative Auswirkungen, vom Faschismus bis zum Klimawandel.

Heute wissen wir, Menschen sind nicht nur rational, der Messbarkeits- und Verfügbarkeitswahn verliert wichtige Aspekte aus dem Blick. Aktuell gibt es in vielen Bereichen die Versuche, nicht-Messbares in wissenschaftliche Theorien hereinzuholen, es wird immer offensichtlicher, dass wir die Welt nicht beherrschen können, dass sich Menschen nicht auf rationale Nutzenmaximierer reduzieren lassen können. Religion spricht genau diesen Bereich an, der mit Mitteln der rationalen Wissenschaft nicht erfasst werden kann. Und Religion muss sich zwar ständig reformieren, sie bricht aber nicht alle Brücken hinter sich ab, sondern orientiert sich immer auch an der Tradition, aus der sie sich herleitet.

Die Rolle der Religionen im Prozess der Modernisierung könnte also vielleicht genau das sein: darauf zu achten, dass das was im Alten gut war erhalten bleibt, dass es nicht zu Einseitigkeiten kommt, darauf dass das Kind nicht mit dem Bad ausgeschüttet wird. Religion hat eine Sprache für das uns Unverfügbare und für das was uns alle und auch das nicht-menschliche Leben auf dieser Erde verbindet. Dass es gerade wieder zu einer Hinwendung zu Religionen kommt, kann man ruhig als Zeichen sehen, dass ohne Religion etwas fehlt.

Dass sich auch die trägen kirchlichen Institutionen modernisieren müssen, damit Religionen diese Rolle übernehmen können, ist klar, auch das trifft aber auch auf viele andere Organisationen zu. Religion kann aber nicht als grundsätzlicher Widerspruch zur Moderne gesehen werden, sondern eher als Korrektiv. Als Akteur, der eine Balance zwischen alt und neu herstellt. Innovation und Modernisierung sind kein Selbstzweck, nur weil etwas neu ist, muss es nicht besser sein. Religion kann immer wieder die Frage stellen, ob Innovationen Menschenwürde, die nicht-menschliche Mitwelt, die soziale Gerechtigkeit vermehren oder sie zerstören.

Bei meinen Recherchen bin ich gerade mit freudigem Erstaunen darauf gestoßen, dass sich auch Annette Schlemm intensiver mit dem Buch von Thomas Bauer beschäftigt hat und empfehle ihren Beitrag zur Vertiefung des europäischen Sonderwegs. Und hier habe ich einen weiteren interessanten Artikel zum Thema gefunden.

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