Heute früh gab es eine Radiosendung, in der – wieder einmal – die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher behandelt und die Rolle betont wurde, die die Mütter dabei spielen, dass solche Radikalisierungsprozesse frühzeitig erkannt oder gar verhindert werden können. Die Absicht war gut, es ging insgesamt darum, ein positives islamisches Frauenbild zu zeichnen und dazu musste auch das Argument herhalten, dass Mütter bei muslimischen Männern viel Ansehen genießen. Unabhängig davon ob das stimmt oder nicht – das wird wohl, wie auch bei uns, von Familie zu Familie unterschiedlich sein – bezweifle ich, dass man der Sache der Frauen damit etwas Gutes tut. Diese Idealisierung der Mütter, dann wenn es für die Gesellschaft nützlich ist, hat eine alte Tradition und die wird nicht besser, wenn – um etwas abgewandelt Marianne Gronemeyer zu zitieren – „die Frauen dabei auch noch mitmachen“.*

Drei Dinge sind es, die mir Unbehagen bereiten. Der erste ist einfach erklärt und kann kurz abgehandelt werden:

Was ist mit den Vätern?

Gerade bei jungen Burschen haben doch diese eine wichtige Vorbildfunktion und gerade bei diesen, bezweifle ich die Wirkung dessen, was die Mutter sagt. Das scheint mir eine natürliche Reaktion in der Pubertät zu sein und ich frage mich, ob das bei muslimischen Jugendlichen so viel anders ist, vor allem, wenn sie bei uns aufgewachsen und sozialisiert sind. Dass Rückhalt in der Familie wichtig ist, wenn es darum geht, dass junge Menschen ihren Platz in der Gesellschaft finden, ist fraglos richtig – aber es geht eben dann um die Eltern und nicht um die Mütter alleine. Zusätzlich zeigen Studien aber, dass es nicht einmal die leiblichen Eltern sein müssen, sondern einfach Bezugs- und Vertrauenspersonen, im besten Fall Männer und Frauen, die junge Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenwerden begleiten. Dies nur um zu betonen, dass ich keine Familienidylle beschwören möchte.

Das Zweite ist schon wesentlich schwieriger zu fassen, weil das Argument der Wertschätzung der Frauen so oft in guter Absicht vorgebracht wird, aber am Kern der Sache vorbei geht.

Mütterlichkeit als Ersatzdroge

Ich denke, dass in dieser Idealisierung der Mütter etwas zum Ausdruck kommt, das durchaus auch in feministischen Diskursen schon lange behandelt wurde: die Abwertung, die in unseren Gesellschaften alles erfährt, was unmittelbar mit dem Leben und seiner Reproduktion zu tun hat – von der nichtmenschlichen Natur über die sogenannten „Care-Tätigkeiten“ aber auch bis hin zu jenen „weichen“ Kompetenzen, die auch im kapitalistischen Arbeitsleben wichtig sind. Der homo oeconomicus, der immer nur auf seinen Vorteil bedacht ist und ausschließlich nach marktrationalen Aspekten entscheidet, würde auch in der kapitalistischen Wirtschaft nicht bestehen. Denn diese Dinge sind die Basis jeder Gesellschaft und jeder Form des Wirtschaftens, daher erkennen durchaus viele Menschen, dass da etwas fehlt. Der Mangel an Sorge umeinander, an Verantwortung für das Leben, ist für alle spürbar. Mangels an Reflexion und Begriffen wird dann auf ein Konzept zurückgegriffen, das alt bekannt ist, die Mütterlichkeit. Den Müttern, den Frauen, wird die Rolle zugeteilt, diesen Mangel auszugleichen. Das hat sich seit 2000 Jahren kaum geändert und wird sich auch nicht ändern, solange die wirkliche Ursache nicht benannt wird: Die Abwertung, Ausgrenzung, Unterdrückung und Zerstörung alles Lebendigen in Gesellschaften, die eine bestimmte Form der Rationalität zur einzigen und unumstößlichen Wahrheit erklärt haben und die dadurch ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstören, weil diese sich nicht dieser Rationalität unterordnen lassen.

Frauen etwas Gutes tun zu wollen, indem man ihnen die Mutterrolle zuweist, auch wenn man diese noch so hoch schätzt, ist daher wenig hilfreich, weil es sie in diesem abgewerteten Bereich belässt. Frauen etwas Gutes tun zu wollen, indem man fordert, sie müssten gleiche Chancen in einem höher angesehenen, aber zerstörerischen System bekommen, geht aber auch am Kern der Sache vorbei. Es geht weniger darum, was Frauen und Männer machen, sondern darum, dass die Tätigkeiten im Zentrum des Wirtschaftens stehen müssen, die dem Erhalt des Lebens und der Befriedigung der Bedürfnisse dienen. Daran arbeiten schon seit den 80er Jahren die SubsistenztheoretikerInnen. Ina Praetorius nennt es eine Haltung des Sorgens und sagt „Wirtschaft ist Care“. Solange in unseren Gesellschaften diese Haltung unterdrückt wird, wird die Mütterlichkeit als Ersatzdroge herhalten müssen. Und damit sind wir schon beim dritten Punkt angelangt, der Privatisierung gesellschaftlicher Probleme.

Die Mütter sind schuld

Diese Schlussfolgerung ist die Kehrseite der Idealisierung, denn wenn die Mütter eine dermaßen wichtige Rolle für die Herausbildung der Identität ihrer Kinder spielen, dann hat man ja gleich den perfekten Sündenbock, wenn etwas schiefgeht. Und hier greift auch die Einbeziehung der Väter zu kurz – man kann gesellschaftliche Fehlentwicklungen nicht auf die private Sphäre der Familie abwälzen.

Was Eltern nicht alles leisten sollen: sie sollen dafür sorgen, dass ihre Kinder zu produktiven Arbeitskräften werden, die sich willig in unsere Leistungsgesellschaft einfügen und dort reussieren. Die Kinder sollen aber gleichzeitig glücklich sein und ihre Fähigkeiten entfalten können, sie sollen kreativ sein, Zeit zum Spielen haben aber ausreichend gefördert werden. Dann sollen aber die Eltern auch noch beruflich erfolgreich sein und eine gute Paarbeziehung und ein erfülltes Sexualleben haben. So gut können Eltern gar nicht sein, dass sie all diesen Ansprüchen genügen. Diese Quadratur des Kreises kann schon deshalb nich aufgehen, weil sie die Ambivalenzen und Widersprüche unseres Gesellschaftsmodells in die Familie hineinprojiziert.

Dabei machen Eltern sich ohnehin Vorwürfe, wenn etwas schiefgeht im Leben ihrer Kinder und entwickeln Schuldgefühle. Diese Idealisierung der Mütter oder der Familie schlechthin verstärkt diese Schuldgefühle, die Eltern dann in Selbsthilfegruppen wieder ablegen lernen müssen, wo ihnen PsychologInnen erklären, dass sie NICHT für das Leben ihrer Kinder verantwortlich sind – also was jetzt?

Tatsache ist, gerade im Jugendalter nimmt der Einfluss des Elternhauses ab, während der Einfluss der Peer-group wächst. Aber unabhängig von diesen psychologischen Fakten sind es hier vor allem gesellschaftliche Probleme, deren Lösung man den Familien auferlegt. Wenn eine Gesellschaft eine bestimmte Gruppe von Menschen vom Kindergarten an so behandelt, als seien sie Menschen zweiter Klasse, für die es keine Verwendung in der Gesellschaft gäbe und die nur einen Kostenfaktor darstellten, dann darf sich diese Gesellschaft nicht wundern, wenn diese Kinder sich im Jugendalter auch so benehmen, als gehörten sie nicht zur Gesellschaft. Wenn erwachsene Menschen verhetzerische Botschaften an Jugendliche richten und zu Gewalttaten aufrufen, dann ist das erst einmal ein Fall für das Strafrecht und für die Justiz und nich für die Familien, die durchaus ein Recht darauf hätten, dass der Staat ihre Kinder vor solchen Menschen schützt. (Ja, ich weiß, diese Aufhetzung kommt auch aus dem Internet und aus Ländern, auf die unsere Politik keinen Einfluss hat. Aber ich bin sicher, Jugendliche werden nicht nur durch das Internet in ihren Entscheidungen beeinflusst. Da spielen schon auch persönliche Erfahrungen und Beziehungen eine Rolle). Stattdessen die Jugendlichen, die sich aufhetzen lassen, ins Gefängnis zu stecken, ist der Sache hingegen vermutlich nicht dienlich.

Die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher in Europa ist kein Problem des Islam und sie ist vor allem keine in erster Linie religiöse Frage. Sie kann auch nicht isoliert von anderen aktuellen Krisen betrachtet werden, ob es um Wirtschaft, Klima oder Ernährung geht. Wie diese ist sie eine Konsequenz einer Entwicklung, die vor mehr als 2000 Jahren begann, die aber in den letzten 30 Jahren so etwas wie einen Höhepunkt erlebt hat. Die Unterwerfung alles Lebendigen unter die Profitlogik ist die Überspitzung einer Philosophie, die den Körper, das Lebendige, dem abstrakten Geist unterwirft und zu massiven Spaltungen in der Gesellschaft ebenso führt wie zur Zerstörung der Natur. Dieser Höhepunkt ist möglicherweise aber gleichzeitig ihr Ende. Denn die Auswirkungen zeigen sich massiv an allen Ecken und Enden und es ist klar, dass es so wie es jetzt läuft nicht mehr lange weiter gehen kann. Die Entscheidung, wie es Naomi Klein formuliert hat, vor der wir stehen ist die, ob wir diesen Übergang gestalten wollen oder sein krisenhaftes und gewaltförmiges Auftreten einfach akzeptieren und alle selbst schauen müssen, wo sie dabei bleiben. Wir brauchen auch die muslimischen Jugendlichen für diese gesellschaftliche Transformation, allein deswegen, weil sie Teil dieser Gesellschaft sind. Und wir brauchen auch ihre Mütter und ihre Väter, aber ohne irgendeine Rolle dabei zu idealisieren und zu mystifizieren, um Probleme auf sie abwälzen zu können.

*Sie schreibt das in diesem Buch über das kapitalistische Wirtschaftssystem und das Bestreben der Gleichstellung von Frauen in Bezug auf Lohnarbeit.