Corona und kein Ende
Was soll der Hype und wer profitiert davon – das habe ich vor zwei Woche noch gedacht und wohl viele andere auch. Ich war wirklich sauer, weil eine Veranstaltung abgesagt werden musste, an der wir lange gearbeitet hatten und kommende Veranstaltungen sind in Frage gestellt. Ich bin immer noch nicht überzeugt davon, dass die Gefährlichkeit dieses Virus‘ die drastischen Maßnahmen rechtfertigt, aber mir ist inzwischen klar, dass wir da jetzt nicht mehr rauskommen.
Die überwiegende Mehrheit hat sich – auf globaler Ebene – entschieden, dass soziale Isolierung und ein Herunterfahren von Wirtschaft und öffentlichem Leben notwendig sind, um eine drohende Gefahr abzuwenden. Und es ist sich diesmal, vielleicht zum ersten Mal, wirklich nahezu die ganze Welt einig. Einige wenige Regierungen, die nicht von Anfang an dem Trend folgten, wurden praktisch von Bevölkerung und Medien zum Mitmachen genötigt. Nicht dass ich ein Faible für Trump & Co entwickelt hätte, aber in dieser undurchschaubaren Lage machen manche aus richtigen Gründen das Falsche und andere aus falschen Gründen das Richtige.
Dass mit dieser Situation so umgegangen wird, wie es im Moment der Fall ist, liegt am Zustand unserer Gesellschaften, daran, dass seit Jahrzehnten eine Politik mit der Angst gemacht wurde, an der Beschleunigung und Überreiztheit, am jahrzehntelangen Totsparen von Gesundheitssystemen, an der Unterordung der Wissenschaft unter ein neoliberales Verwertungsparadigma und an der Bedeutung der Medien. Es ist nun einmal keine Story zu berichten, es sei ein neues Virus entdeckt worden (die entstehen beinahe jeden Tag), man wisse noch nicht, wie gefährlich es ist, es könnte Sinn machen, das zu beobachten, nach Gegenmitteln zu forschen und die Hygienemaßnahmen ein wenig zu verschärfen (und Forschungsgelder lassen sich damit auch nicht wirklich lukrieren). Einen sehr guten Artikel dazu gibt es hier.
Es lässt sich nicht leugnen, dass vielen diese Krise sehr gelegen kommt, ist sie doch eine ideale Gelegenheit von Themen wie Klimawandel und der Situation an den europäischen Grenzen abzulenken; eine Chance für Politiker*innen Handlungsfähigkeit zu suggerieren, die sie gerade zu diesen Themen seit Jahren vermissen lassen; ein geeigneter Anlass, Proteste und Demonstrationen zu verbieten, die in der letzten Zeit – angesichts der erstarkenden Klimabewegung und der eskalierenden Situation an der griechischen Grenze – gehäuft und oft auch spontan auftraten und ein Ausmaß zivilen Ungehorsams erreichten, das für Österreich untypisch ist; ein Grund Grenzen zu schließen, gegen den nicht einmal die größten Gutmenschen etwas einwenden können. Und der wirtschaftliche Einbruch, wird er wieder ein Anlass sein, weitere Sparprogramme umzusetzen?
Nein, es geht nicht um Verschwörung und auch nicht um Vorwürfe. Vor dem Hintergrund der derzeit vorherrschenden Erzählung können Politiker*innen gar nicht anders handeln, als sie es tun, es wäre verantwortungslos. Es ist allerdings auch kein reiner Zufall. Die Mächtigen erfinden keine Krisen, niemand hat sich getroffen und ausgeheckt ein gefährliches Virus in die Welt zu setzen oder vielleicht auch nur so tun. Die Mächtigen schaffen es aber immer wieder, Krisen für ihre Zwecke zu nutzen und in Gesellschaften wie der unsrigen kommt dann eben das heraus, was wir grad haben.
Aber egal, erstens, wie schon gesagt, wir entkommen dieser Dynamik nicht mehr, es geht also eher darum, die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen im Auge zu behalten und schon jetzt darüber nachzudenken, was passiert, wenn der ganze Spuk vorbei ist, wie werden die Krisenfolgen aufgearbeitet und wer werden die Gewinner und Verlierer sein. Das macht zB die Intiative Coview.
Zweitens weiß ich ja auch nicht was wirklich stimmt und im Zweifelsfall macht es auch Sinn, vorsichtig zu sein. Also habe ich mich dafür entschieden, die Anweisungen zu befolgen. Trotzdem verspürte ich immer wieder extremen Widerstand zu gewissen Vorschriften und Aussagen von Politiker*innen. Ich habe mich mit vielen Menschen ausgetauscht und das hat mir geholfen, nicht nur die Ursachen meines Ärgers zu finden, sondern auch Ideen zu entwickeln, wie es sein könnte. Und nun ist es mir auch endlich möglich, die Gedanken auszudrücken und aufzuschreiben, die seit 2 Wochen in meinem Kopf ein höchst verwirrendes Eigenleben geführt haben.
Ein Konzept passt nicht für alle
Also, erst einmal zu den Ursachen. Dafür ist es notwendig, ein wenig über meine eigene Situation zu schreiben.
- Ich lebe an einem wunderschönen Ort, mitten im Wald mit Bächlein, Fischteich, Hühnern, Bienen, großem Garten und sogar eigenem Fußballplatz (den ich aber nicht nutze 😉 ). Ein idealer Platz für soziale Isolation und ein unglaubliches Privileg gegenüber Menschen, die in einer kleinen Stadtwohnung ausharren müssen. Ich lebe mit anderen Menschen zusammen, das sind aber nicht die Menschen, mit denen zusammen ich politisch arbeite oder über Dinge reden kann, die mir wichtig sind. Ich bin eigentlich gerne allein, fahre alleine auf Urlaub, gehe alleine wandern. Wenn ich Menschen für gute Gespräche treffen möchte, dann gehe ich eben wohin, wo ich das kann. Und alle diese Orte sind nun weg. Und da kommt die andere Seite zum tragen: an diesem wunderschönen Ort höre und sehe ich eben nichts von der Welt um mich herum. Nach einer Woche Abgeschiedenheit im Wald war ich nur mehr frustriert.
- Zweitens: Ich bin ein sehr anpassungsfähiger Mensch und mit vernünftigen Argumenten oder freundlichen Bitten kann man sehr viel von mir haben. Aber ich kann es nicht vertragen, wenn man mir etwas ohne ersichtliche Logik verbietet. Mehr noch, es macht mich auch wütend, wenn es mich gar nicht betrifft, sondern nur anderen verboten wird. Und manche der derzeitigen Ge- und Verbote machen eben für manche Menschen keinen Sinn (siehe weiter unten), manche werden einfach eher willkürlich umgesetzt.
- Drittens: Ich gehöre mit knapp über 65 gerade schon zu der immer definierten Risikogruppe. Und ich kann dieses Gelaber von „wir müssen unsere Alten schützen“ nicht mehr hören. Um Empathie und Zustimmung zu wecken, verwenden Politiker*innen immer Sympathieträger, meist sind es Tiere oder kleine Kinder. Beides funktioniert in dem Fall nicht. Tiere sind nicht betroffen, Kinder eher eine Gefahr als Überträger von Viren. Da besinnt man sich plötzlich wieder auf die Alten – die sonst ja eher als Problem gesehen werden, Stichwort „Boomer“, also, die sollen nun plötzlich schützenswert sein? Für wie blöd hält man uns eigentlich? Wenn man wirklich die alten Menschen schützen wollte, dann könnte man zB gegen Altersarmut vorgehen, an Armut sterben mehr Menschen als an Corona. Vor allem aber, es wird eine homogene Gruppe suggeriert und diese ganze Gruppe zu schützenswerten Opfern gemacht und damit entmündigt. Darum ärgern mich die Ausgangsverbote für Menschen ab 65 in vielen Ländern, obwohl ich selbst nicht betroffen bin. Es gibt 70-Jährige, die jeden Tag 2 Stunden Fahrradfahren. Dabei gefährden sie weder sich selbst noch andere, wenn man ihnen das aber wochenlang untersagt, werden sie sicher krank. Menschen über 65 sind auch in der Lage, ihre Situation selbst einschätzen zu können und möchten selbst entscheiden, welches Risiko sie eingehen.
Aus diesen drei Aspekten meiner persönlichen Situation und dem Austausch mit Anderen, bin ich zu folgender Erkenntnis gekommen: Dieses „Stay at home“ bedeutet für jeden Menschen etwas anderes, es trifft auf so viele unterschiedliche Lebenssituationen, dass es dafür keine einheitliche Lösung geben kann. Für diejenigen, die jetzt vielleicht mehr arbeiten müssen als sonst und dabei auch noch mit vielen Menschen in Kontakt kommen, ist es einfach nur zynisch. Für alleinstehende alte Menschen (und ein großer Teil der Menschen über 65 wohnt alleine) ist es eine Zumutung, die sie eher krank macht und dann gibt es noch unendlich viele unterschiedliche Lebenslagen dazwischen.
Ein emanzipatorischer Zugang
Wie also würde ein emanzipatorischer Umgang mit einer solchen Krise aussehen? Diese Ausnahmesituation ist ein globales soziales Live-Experiment, wie es noch nie eines gab. Im besten Fall ist es eine Übung für eine Situation, die grundsätzlich jederzeit auftreten kann. Also sollten wir uns überlegen, wie man es besser und vor allem demokratischer machen kann. Natürlich kann man im Augenblick einer konkreten Gefahr keine Volksabstimmung machen und nicht erst einmal Bürgerräte einberufen. Aber man kann den Menschen Vertrauen entgegen bringen und ihnen Verantwortung für ihren Privatbereich übertragen.
Die Regierung soll alles was in ihrem Bereich liegt regeln: Schulschließungen, Betriebsschließungen, Gruppenansammlungen im öffentlichen Raum, usw, also alles, was jetzt passiert, ist erst mal ok, das muss man später evaluieren, ist jetzt nicht mein Thema. Für den privaten Bereich sollte sie die Rahmenbedingungen schaffen, dass Menschen ihre Gesundheit selbst in die Hand nehmen können. Gesundheit bedeutet eben nicht nur Abwesenheit eines bestimmten Virus, sondern auch Bewegung, psychische Gesundheit, Sozialkontakte und vor allem Selbstwirksamkeit. Irgendjemand hat auch geschrieben, wir müssten endlich aufhören, die Welt nur durch die Augen von Virologen zu betrachten.
Also: Wer zuhause bleiben will, soll das können, ohne Angst vor Kündigung oder Einkommensverlust. Öffentliche Verkehrsmittel sollen weiter bestehen, damit auch Menschen sich bewegen können, die kein Auto haben und nicht mehr so gut zu Fuß sind. Anstatt „Bleiben Sie zuhause“ sollte es heißen „Reduzieren Sie ihre sozialen Kontakte so weit wie möglich, machen sie das so, wie es für Sie am besten geht und machen Sie es mit anderen gemeinsam.“ Lasst euch was einfallen, seid kreativ! Gerade die Generation der Digital Natives hat da viele gute Ideen, helft den Älteren, diese Technologien auch zu nutzen!
Das würde heißen: Jeder Mensch überlegt sich, wen und was brauche ich, damit ich mehrere Wochen in weitgehender Isolation aushalten kann und bespricht mit den Menschen, die er oder sie treffen will oder muss, wie diese Bedürfnisse in der jeweiligen Situation am besten umgesetzt werden können bei Minimierung der sozialen Kontakte. In den sozialen Bewegungen würde man sagen bildet Bezugsgruppen, passt auf euch und aufeinander auf.
Das kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Wer den ganzen Tag arbeitet und dabei ohnehin viele Menschen sieht, für den ist es vielleicht vollkommen in Ordnung, den Rest der Zeit alleine oder höchstens mit einem Partner zuhause zu verbringen. Alte Menschen, die alleine wohnen, können sich mit 1 oder 2 Freundinnen absprechen: jeder von uns bleibt zuhause, damit wir uns nicht anstecken können, aber einmal in der Woche treffen wir uns bei einer von uns zum Abendessen. Oder auch zum Kartenspielen oder was immer sie bisher gemacht haben, um ihre Sozialkontakte zu erhalten. 2 oder 3 Alleinerziehende mit Kindern könnten sich zusammentun zur gegenseitigen Entlastung und auch die Kinder haben jemanden zum Spielen. Bei Familien wäre es vermutlich meist ohnehin so, dass sie die Bezugsgruppe sind (muss aber nicht zwingend so sein), aber sie könnten gemeinsam mit den Großeltern entscheiden, ob diese auch dazugehören sollen, oder die Tante, Schwester, wer auch immer (es gibt auch Großmütter unter 65, und überhaupt, siehe oben). Jugendliche bilden Minibanden, mit denen sie abhängen oder sonstwas tun können (auch Party feiern), wenn sie dafür niemand anderen treffen.
Keine Verantwortungsuntertanen
Solche Arrangements hätten viele Vorteile:
- weil Menschen sie selber gestalten, würden sie sich eher über längere Zeit dran halten.
- Anstatt des Gefühls, „jeder Mensch ist eine Bedrohung“ würde klar, dass wir voneinander abhängig sind. Es entstünde eine Kultur des Vertrauens statt des Misstrauens, was natürlich auch von Politik und Medien entsprechend geframed werden müsste.
- Die Einschränkung der Grundrechte und die Kontrolle würde nicht in den Privatbereich hineingehen, die „offene Gesellschaft“ nicht ganz aufgegeben.
- Oft sind Menschen zu sich selbst strenger als Vorschriften es sind und weil es eben wirklich individuell angepasste Lösungen sind, bin ich ziemlich sicher, dass die Summe der Sozialkontakte eher kleiner, aber keinesfalls größer wäre als unter der allgemeinen Regel „Stay at home“.
- Natürlich würde es auch Menschen geben, die sich nicht dran halten, aber die gibt es jetzt auch. Wenn sich aber unter solchen Bedingungen Menschen mit anderen als der vorher vereinbarten Gruppe treffen, würde das mindestens 2 Bezugsgruppen betreffen und die Person würde Gefahr laufen, alle Kontakt zu verlieren, weil sie sich nicht an die selbst getroffenen Vereinbarungen hält. Jetzt hingegen ist es wohl eher so, dass sich jemand freut, wieder einmal ein Verbot ungestraft übertreten zu haben, oder, wie es auch einer meiner Gesprächspartner formuliert hat: ich kann die Gesetze nicht ändern, aber ich versuche halt, mich privat möglichst widerständig zu verhalten.
Und schließlich könnte man in diesem Fall wirklich von einem Team reden, wenn es denn sein muss. Was jetzt gerade unter „Team Österreich“ gehypt wird, ist nicht nur nationalistisch, sondern auch zynisch. Wir sind natürlich kein Team, einige sagen was wir tun dürfen und die anderen müssen sich dran halten, und die, die das brav tun, dürfen dann zum Team gehören, die anderen sind verantwortungslose Nestbeschmutzer. Verantwortungslos in einem übertragenen Sinn sind wir in dieser Situation aber alle, wir gehorchen nur, sind „Verantwortungsuntertanen“, wie es Richard Schuberth in diesem ausgezeichneten Beitrag nennt, die dankbar annehmen, was die starken Führer ihnen verordnen. Im anderen Fall hätte aber jeder Verantwortung und Gestaltungsmacht gemeinsam mit anderen in seinem privaten Umfeld.
Einen Punkte möchte ich noch anmerken: diese Zeit der Ausgangsbeschränkungen wird sicher noch einige Wochen andauern. Das beschneidet für zu lange Zeit auch die politischen Rechte. Verschieden Gruppen denken darüber nach, wie man das Demonstrationsrecht so ausüben kann, dass die Hygienebestimmungen eingehalten werden, also etwa Mundschutz und Handschuhe tragen, Abstände einhalten, nicht mehr als 3 Personen an einem Ort. Das ist aber trotzdem verboten und wird mit hohen Geldstrafen geahndet. Man müsste die Gründe, die den Aufenthalt im Freien erlauben, um diesen Aspekt erweitern.
Und zum Schluss noch eine Anmerkung: Ja, auch ich kenne die Bilder aus Italien. Wenn aber in einem Land das Virus eine so drastisch schlimmere Auswirkung hat, als in anderen Ländern, sollte man vielleicht erst einmal darauf schauen, woran das liegen könnte, auch dafür gibt es schon einige Antworten: Italien hat die Bevölkerung mit dem höchsten Altersdurchschnitt in Europa, die Region, wo das Virus ausgebrochen ist, hat eine extrem hohe Luftverschmutzung, es gibt also eine entsprechende Vorbelastung mit Atemwegserkrankungen, das italienische Gesundheitssystem wurde auf Druck von Deutschland und Frankreich nach der Finanzkrise totgespart, damit Italien aus der Krise geholfen wurde. Und wenn das so ist, wäre dann nicht die bessere Reaktion, Italien zu unterstützen, anstatt die Grenzen zu schließen und Schutzausrüstungen zu beschlagnahmen?
Vielen Dank für deine Gedanken, liebe Brigitte!
M.E. sind die Maßnahmen notwendig und wurden zu spät ergriffen.
Auch jetzt wird die wirtschaftliche Aktivität nicht im erforderlichen Maße eingeschränkt. Der Konflikt, der sich am Beispiel der Anti-COVID-19 Maßnahmen vorrangig zeigt, verläuft zwischen dem Kapital auf der einen Seite, und den Anliegen der meisten Menschen, nämlich gesund zu bleiben und ihre Angehörigen gesund zu wissen, auf der anderen Seite. Der Staat nimmt eine wie immer vermittelnde und entsprechend widersprüchliche Position ein.
Dass Gesundheit zumindest in Teilen bislang priorisiert wird, halte ich für eine parzielle und höchst widersprüchliche, sicherlich auch fragile, zeitlich vielleicht eng begrenzte Abkehr von neoliberaler Politik, die dennoch als eine solche erkannt und vor allem genutzt werden sollte. Diese Politik widerspricht den Verwertungsinteressen des Kapitals, und auch der ausschließlichen Orientierung daran, sich vorrangig oder allein um jene zu kümmern, die kapitalistisch verwertbar sind.
Je länger der wirtschaftliche Ausnahmezustand andauern wird, desto weniger werden gesundheitspolitische Erwägungen die Oberhand behalten. In den USA ist diese Konfliktlage besonders deutlich (offenbar selbst innerhalb der Trump-Administration), aber auch in Italien, Deutschland, und in Österreich.
Dass COVID-19 aus bestimmten Gründen ein besonders wirksamer Auslöser für diese Konflikte ist, während andere wichtige oder gar wichtigere Anliegen dies nicht sind, steht außer Frage.
Das kann m.E. aber kein Argument dafür sein, die Maßnahmen gegen COVID-19 vorzeitig zurückzufahren.
Die Gesundheitseffekte der momentanen Anti-COVID-19 Maßnahmen werden sicherlich erst in geraumem zeitlichem Abstand und mit besseren Daten einzuschätzen sein. Ein Rückgang der Luftverschmutzung verbessert den Gesundheitszustand beispielsweise, während ein Rückgang von Einkommen ihn verschlechtern kann. Sozialkontakte zu Familienmitgliedern über Telefon (oder zu Kindern im eigenen Haushalt) könnten zunehmen und sich positiv auswirken, während die Reduktion physischer Kontakte dazu führen kann, dass sich der Gesundheitszustand verschlechtert. Auch die Auswirkungen der Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen sind aus heutiger Sicht noch kaum einschätzbar und sicherlich sozial differenziert zu sehen.
Regelungen der subjektiven Interpretation zu überlassen ist bis zu gewissem Grad ohnehin zwangsläufig, z.T. auch der Hektik der Gesetzesänderungen, z.T. aber auch dem besonderen Charakter der Regelungen geschuldet. Sie noch weitergehend von Standardisierungen und Sanktionen zu entkoppeln hätte aber wohl einen Effekt, der fatale Folgen haben kann: das Trittbrettfahren. Das hat sich z.T., wenn eins Medienberichten glauben darf, in Österreich und Italien gezeigt; auch aus Spanien gibt es solche Berichte. Ausgangsbeschränkungen wurden oder werden in diesen Fällen so interpretiert, dass kollektive Aktivitäten in der Natur oder in privatem Rahmen von den Beschränkungen ausgeschlossen sind. Sofern nur wenige diese Interpretation teilen, wird der Sinn der Regelung, die Ausbreitung des Virus zu minimieren, nicht unbedingt gefährdet. Sofern diese Interpretation jedoch viele teilen, wird ihr Sinn unterminiert.
In politischer Hinsicht scheint mir zentral, (1) die Ungleichheiten, die sich auch in der Krise fortsetzen und zu verschärfen drohen, offensiv zu thematisieren, (2) dafür zu kämpfen, dass Gesundheit mehr gilt als Kapitalinteressen, (3) die Unterbrechung der kapitalistischen Normalitäten dafür zu nutzen, Alltagsroutinen zu hinterfragen und progressive Politiken durchzusetzen (beispielsweise von der Aussetzung von Mieten zu einem temporären Grundeinkommen und von da noch darüberhinaus zu gehen), und (4) – wie du sehr schön illustrierst – solidarische Beziehungen aufzubauen oder zu stärken.
Das autoritäre Potenzial der Krisenbearbeitung, das über das per se autoritative Staatshandeln hinausgeht, und das sich nach COVID-19 zu entfalten droht, müssen wir mit äußerster Wachsamkeit im Blick behalten und seine Realisierung bekämpfen. Dazu auch weiterführend und in größerem Zusammenhang der folgende Artikel: https://roarmag.org/essays/no-return-to-normal-for-a-post-pandemic-liberation/
Zum Abschluss ein Verweis auf einen aus meiner Sicht sehr guten Text zur Einschätzung der Krise und zu den politischen Perspektiven mit besonderem Augenmerk auf die Frage einer Stillegung von Teilen der Produktion: http://www.oekosoz.org/2020/03/corona-pandemie-eine-historische-wende/ – ein Text, der in einen interessanten, auf Synergien abzielenden Zusammenhang mit deinen Überlegungen, liebe Brigitte, gebracht werden könnte.
Brigitte, ich kann dem Andreas nur zustimmen. Ich habe heute folgende Geschichte auf Facebook gepostet und daraus hat sich dann ein ziemlich spannender Dialog entwickelt: (ich bin grad in Wien)
„Gerade mein erstes richtiges Person to Person Gespräch seit langem geführt, mit unserem Hausbesorger (ja wir haben hier in Floridsdorf noch welche!) der mit Maske das Stiegenhaus gereinigt und wohl auch desinfiziert hat. War ein richtig erhebendes und befreiendes Gefühl, vor allem weil er einem Gespräch zugänglich war…. Auch er merkt dass Rendi Wagners Vorschlag vielleicht eine andere Qualität hat als das derzeitige öffentliche Bewusstsein. Hat sehr praktisch ein Zukunftsbild entworfen mit Corona Selbsttests in allen Briefkästen, die dann auch von der Post eingesammelt werden.Wir haben Vò (das Seuchenloch bei Padua, das sich freigetestet hat) besprochen und er gab mir recht dass es von der Nachbarschaft ausgehen muss, wenn wir das Leben normalisieren wollen. Bot mir Hilfe an mit Handschuhen. Sagte mir „wir werden das durchstehen, die schlechten Zeiten gehen auch wieder vorbei“. Und ganz kurz war ich wieder in dem Vorstadt – Wien, das ich von früher kannte. .. Man ist wohl anfällig für Sentimentalität in solchen Zeiten …. und dass mir jetzt keiner mit dem Franz Pokorny, 60, kommt!“
Dann hab ich mit Dir telefoniert und das von Dir empfohlene Interview mit dem Wiener Gesundheitsstadtrat Hacker im Falter gelesen. ich fand das gar nicht so eindeutig gut und hab kommentiert:
Er erkennt zu recht: „Das Coronavirus ist auch etwas völlig anderes als eine Influenzawelle. Weil es viel mehr Erkrankungen an den Atmungsorganen gibt.“ und trottzdem ist auch er einer derjenigen die sagen: “ Ich halte es für extrem wichtig und sehe es als meine Aufgabe, klarzumachen, dass ein großer Teil der Bevölkerung in Kontakt mit dem Virus kommen wird. Aber 80 Prozent werden eine Erkrankung mit einem milden oder leichten Verlauf durchleben.“ Das halte ich für falsch, defätistisch und gefährlich.
Corona ist ein „Naturereignis“, und „mehr Tote“ „muss man halt in Kauf nehmen“.
Da kann ich nur sagen: So wird das nichts mit dem Roten Wien!
Natürlich glaubt er gute Gründe zu haben. „Schnelltests sind ein Schmarrn“. – Ja dann arbeitet doch global – kooperativ daran, sie zu verbessern !! Huimmelkreuzdonnerwetter !!!
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Hier wirds dann schon fahrlässig:
„Wie viele Wiener haben eigentlich Covid-19? Was sind Ihre Schätzungen?
Hacker: Sehr, sehr wenige. Heute offiziell 280, vielleicht auch das Zehnfache oder Hundertfache. Das wären immer noch erst 28.000. Das Virus ist derzeit in der Stadt sehr selten. Das wird sich aber ändern.
Sie glauben, dass nicht mehr Menschen infiziert sind?
Hacker: Nein, denn dann hätten wir ganz andere Ausbreitungszahlen. Wir wissen ziemlich sicher, dass Menschen mit Bezug zu Italien die Wiener angesteckt haben. In den ersten Wochen hatten alle Infizierten einen Bezug zu Italien. Hätten wir eine größere Ausbreitung, würden die Wege nicht alle nach Italien führen.“
dieses „das wird sich ändern“ tut so als könnte man nichts tun zur Einschränkung. Das ist grenzwertig. Und dann kommen solche Aussagen:
„Die Frage lautet also: Wie viele Tote wollen wir uns leisten?
Hacker: Das ist die zynische Formulierung. Aber ja, das ist die schwerwiegende Entscheidung.
Wie würden Sie sie beantworten?
Hacker: Ich sitze nicht im Krisenstab des Bundeskanzlers. Kein Vertreter der Stadt sitzt im Krisenstab.
Wollen Sie dort sitzen?
Hacker: Nein. Ich habe keine Zeit dafür. Ich habe alle Hände voll zu tun, die Stadt zu schützen.“
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Warum nimmt eingentlich niemand zur Kenntnis, dass China allem Anschein nach das Virus eingedämmt hat und sich nicht nach Theorien der „Herdenimmunität“ gerichtet hat?
Danke für euer Kommentare! Ich find es einfach gut, dass man darüber reden kann, dass verschiedene Vorgangsweisen möglich sind, um mit dem Virus umzugehen. Wir haben jetzt im Moment die absolut schärfte mit den größten „Nebenwirkungen“, die noch niemand wirklich abschätzen kann. Als schnelle Notmaßnahme ist das akzeptabel, aber das können wir nicht lange durchhalten, wir müssen da wieder raus und dafür ist es sinnvoll zu schauen, welche anderen Vorschläge es gibt, ich kopiere hier einmal 2 rein.
Zuerst eine Einschätzung aus der jungen Welt https://www.jungewelt.de/artikel/375518.fakten-gegen-panikmache-kleines-corona-kompendium.html
Fazit in der »Krise«
COVID-19 hat, bei entsprechender medizinischer Betreuung, keine höhere, sondern eher eine niedrigere Letalität als die Wintergrippe von 2017, allerdings eine wesentlich höhere Verbreitungseffizienz.
Dazu kommt die relativ lange Inkubationszeit verbunden mit vielen leicht verlaufenden Erkrankungen, die oft gar nicht als COVID-19 erkannt werden (können).
Kritische, d.h. potenziell tödliche Krankheitsverläufe sind fast ausschließlich für bestimmte Risikogruppen zu erwarten, die daher eines besonders effektiven Schutzes bedürfen.
Zur Beherrschung der Folgen der Ausbreitung dieses neuartigen Coronavirus ist daher eine Kombination von allgemeiner Ausbreitungseindämmung (z.B. durch hygienische Maßnahmen und Verhaltensänderungen bei Direktkontakt), Isolation der Risikogruppen, Anpassung der bekannten und Entwicklung neuer Methoden der klinischen Symptombehandlung, Entwicklung und Anwendung eines Impfstoffes und Nutzung der Immunität nach durchlaufener Infektion (mit oder ohne Symptome) vonnöten.
Letzteres scheint als einziger Punkt zu wenig Beachtung zu finden, und könnte sich kritisch bei der mittel- und langfristigen Beherrschung der Pandemie auswirken, da eine zu starke Isolation von Nicht-Risikogruppen die Ausbildung flächendeckender Immunisierung vermindert, die letztendlich der einzig wirksame Schutz der gesamten Population ist.
Langfristig wird gerade in Pflegeeinrichtungen immunisiertes Personal benötigt, die den Erreger nicht mehr übertragen können.
Auch die (bislang) völlige Unempfindlichkeit von Kindern für SARS-CoV-2 könnte für eine »Herdenimmunisierung« genutzt werden.
Und dann ein Auszug aus einem Text von Kai Ehlers https://kai-ehlers.de/2020/03/coronawahn-perversion-der-solidaritaet/
Differenzieren
Dies alles ist so offensichtlich pervers, dass man hier zwangsläufig auf die Frage gestoßen wird, warum die Kräfte, die heute Verantwortung für das staatliche Leben im nationalen wie auch globalen Rahmen tragen, in dieser Corona-Saison, wenn schon besondere Sorge für notwendig erachtet wird, die über die übliche jährliche Grippe-Vorsorge hinausgeht, nicht zu einem differenzierten Vorgehen kommen. Es wäre doch sehr einfach zu handhaben:
Der jungen und mittleren, in Arbeit stehenden Generation wäre die Möglichkeit zu lassen, die Grippe in freier Bewegung zu überstehen und so das herbeizuführen, was von den Epidemiologen „Herdenimmunität“ genannt wird – also die Grippewelle einfach bei 60/70% Infizierter auslaufen zu lassen.[iv]
Zugleich wären eine systematische Aufklärung, Ausbildung und Ausrüstung zur Stärkung der Immunkräfte in der gesamten Bevölkerung zu initiieren, statt die Menschen zum Rückzug in ihre Häuser, an ihre PCs und an ihre Smartphones zu zwingen.
Die häusliche Fürsorge für die Alten, Schwachen und Kranken während der erwarteten Hochzeit der Virusausbreitung durch den mobilen Teil der Gesellschaft wäre gezielt zu fördern. Danach kann auch für die Alten wieder Entwarnung gegeben werden.
Dies alles wäre ohne Schwierigkeiten, ohne übermäßige Kosten, durch eine kurzfristige Mobilisierung der Bevölkerung, statt ihrer langfristigen Stilllegung und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen möglich. D a s hieße Solidarität zu organisieren, die zugleich die zwischenmenschlichen Beziehungen als Kraft aktiviert.
So sehr ich den Kai Ehlers mag, seine unkritrische Aufnehme der Idee der „Herdenimmunität“ ist ein großer, um nicht zu sagen letaler Fehler. Wir wissen vielleicht immer noch nicht genug, aber wir wissen dass es bei genug jüngeren Leuten auch sehr dramatisch verlaufen kann. Selbst die, die nicht sterben und es aber schwer symptomatisch durchlaufen haben, und da gibt es schon mttlerweile genügend, beschreiben durch welche Hölle sie gegangen sind und warnen davor, andere Menschen willentlich und wissentlich dem Ansteckungsrisiko auszusetzen. Das kann es nicht sein.
Was aber dann? Ich habe in meinem Kommentar oben schon die Stadt Vo bei Padua erwähnt. Ich bin dafür, eine gänzlich andere Strategie zu entwickeln und nenne sie „Inseln der Virusfreiheit“.
Ich suche Gleichgesindte und Fachleute um diese Strategie zu entwickeln, hier mein Post in Facebook
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I just had a phone call with a decisionmaker in the Austrian Asscociation of Municipalities. I told my findings about Vo, Telluride, Iceland (testing>fine grain measures) and my thoughts about the strategy of accumulating „virus – free – islands“ that needs to be tested worldwide as an alternative to dangerous „herd immunity“/“flattenthecurve“ strategies. I was surprised about the positive feedback I received, the answer, „yes, the smaller the action area the better and more precise and efficient the results will be“. But the problem is the absence of testing materials.
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So I would like to call for serious research how these shortcomings in testing (maybe also reliability and validity) are met worldwide. I have a strong feeling that the solution begins here. Would be also interesting to find responsible mayors willing to go beyond the current standards.
as we can see here, the whole world is starting to put their minds together…. global thought for local action!
https://www.youtube.com/watch?v=BhCf3CDHB7s
Noch 3 wichtige Links:
Von der Bagatellisierung zu einem durchsichtigen Paradigmenwechsel – ein wunderbarer Artuikel der China Expertin Renate Dillmann:
https://www.heise.de/tp/features/Angst-vor-dem-Virus-Vertrauen-auf-den-Staat-4688810.html
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Berliner Prioritäten (III)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8223/
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„Schlimmer als die Pandemie“
Wirtschaftskreise fordern Abkehr von Schutzmaßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie. Finanzschlacht um Covid-19-Profite hat begonnen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8227/
[…] erste Lockdown im März 2020 hat mich noch bewogen, einige meiner Gedanken aufzuschreiben hier und hier, die Reaktionen darauf, aber im weiteren Verlauf allgemein die Reaktionen von Menschen, […]