Diese Rezension erschien in der Sommer-Ausgabe der CONTRASTE – Monatszeitung für Selbstorganisation
Ich habe Dieter Schrage erst wenige Jahre vor seinem Tod kennen gelernt. Er strahlte gleichzeitig heitere Abgeklärtheit und jugendliche Begeisterung aus, und mir fiel auf, dass er mit einer Hochachtung behandelt wurde, die nicht zu seiner Erscheinung zu passen schien. Erst aus den vielen Nachrufen wurde mir klar, wie umtriebig er gewesen sein musste. Es ist ein großer Bogen, den Robert Sommer in seinem Buch über Dieter Schrage aufspannen muss, um alle Interessensgebiete und Tätigkeitsfelder Schrages abzudecken: da ist der Kurator eines staatlichen Museums, der mit Hausbesetzern sympathisiert, der Uniprofessor, der seine Studierenden zur »Feldforschung« zu den Donnerstagsdemos schickt, der Erforscher von Randgruppen, Sub- und Gegenkulturen, der sich mit seinen »Forschungsobjekten« nicht nur solidarisieren, sondern auf Grund seiner Herkunft als »Halbstarker« in Bochum auch identifizieren kann. Dieter Schrage lebte in vielen Welten und stand zu den meisten von ihnen gleichzeitig in Opposition. Er trat aus der SPÖ aus, um den Grünen beizutreten und sympathisierte zeitlebens mit der KPÖ. Seine Rolle als Brückenbauer und Bindeglied zwischen verschiedenen Subkulturen und der »Hochkultur« führte dazu, dass mindestens halb Wien ihn kannte. Dabei bewahrte er stets seine Autonomie und seine Sympathie für alles, was von unten, selbstorganisiert und hierarchiefrei war.
Das Buch entstand aus Schrages Nachlass, Gesprächen mit WegbegleiterInnen und unter Hinzuziehung passender historischer und zeitgenössischer Literatur. Es handelt sich nicht wirklich um eine Biografie, weil sie sich nicht an den Lebensdaten ihres Protagonisten orientiert. Gleichzeitig ist es viel mehr als eine Biografie, es ist eine Reise durch die österreichische Zeitgeschichte seit den 70er Jahren, die sowohl die Wiener Aktionskunst-Szene, die Sub- und Gegenkulturen und auch die Geschichte österreichischer Parteien umfasst. Und nicht zuletzt lässt sich dieses Buch als Anleitung zu einem autonomen Leben lesen, zu einem Leben in Einklang mit dem politischen Kampf ohne Verbissenheit, sondern mit Humor. Den Abschluss bildet ein Text des Protagonisten über die Wiener Jugendkultur seit 1945. Der »unterirdische Strom der Anarchie« ist in der Person Dieter Schrage auf vielfache Weise zu Tage getreten und verband Klassen, Kulturen und Altersgruppen.
Robert Sommer: Poesie und Disziplin. Dieter Schrage und der unterirdische Strom der Anarchie. Mandelbaum Verlag 2016. ISBN 978-3-85476-649-0