Hier nun die Beispiele demokratischer Experimente aus dem Buch Reclaim the State, nachdem ich in den letzten beiden Beiträgen in das Buch eingeführt habe. Ich muss gleich vorausschicken, dass es ziemlich schwierig für mich war, mich bei den geschilderten Projekten zurecht zu finden, weil eben die Politik und Verwaltung überall so unterschiedlich funktioniert, es die verschiedenen Ämter, Behörden, Finanzierungsquellen und Institutionen bei uns manchmal gar nicht gibt oder wenn, sie dann ziemlich sicher anders heißen. Ich werde also nicht so sehr ins Detail gehen, sondern auf einer allgemeinen Ebene beschreiben, was dort passiert ist.
Machen wir uns also auf die Reise mit der ersten Station in Porto Alegre.
Das Partizipative Budget in Porto Alegre
Als dort die Arbeiterpartei PT an die Macht kam, war es für sie klar, dass sie diese mit den Menschen teilen wollte, die sie gewählt hatten. Dementsprechend wurde der Prozess auch organisiert. Es wurden auf allen Ebenen Institutionen geschaffen und Angestellte dafür abgestellt. Auch wenn die BewohnerInnen sich in ihrer Freizeit an den Diskussionen und Abstimmungen beteiligen, so gibt es doch KoordinatorInnen, die dafür bezahlt werden. Man sieht also, dass direkte Demokratie auch nicht gratis sein kann, wenn sie auf Dauer funktionieren soll. Es gibt ein eigenes Komitee auf Stadtebene, das nur für die Durchführung und Umsetzung des partizipativen Budgets (PB) zuständig ist. Diese Leute nehmen an allen Versammlungen in den Stadtteilen teil und stehen dort Rede und Antwort. Dann gibt es als Zwischenebene das Koordinationskomitee, eine Person pro Stadtteil und je eine für die Bereiche Jugend, Frauen, black people (wie übersetzt man das politisch korrekt?) und alte Menschen. Sie spielen die wichtigste Rolle in dem ganzen Prozess, weil sie das Vertrauen beider Seiten haben müssen. Sie müssen die Delegierten aus den Stadtteilen unterstützen, wenn diese ihre Entscheidungen treffen, sie müssen die Sprache der Menschen sprechen und ihre Bedürfnisse kennen, sie sind für das Empowerment dieser Menschen zuständig und für die Vermittlung der Fähigkeiten, die sie in diesem Prozess brauchen. Sie müssen sich aber auch gegenüber PolitikerInnen und VerwaltungsbeamtInnen durchsetzen können. Und schließlich gibt es noch die Stadtteilversammlungen, an denen alle Menschen teilnehmen können. Die Beteiligung ist im Lauf der Jahre kontinuierlich gestiegen und es hat sich herausgestellt, dass an diesen Versammlungen häufig Menschen teilnehmen, die sonst kaum eine Stimme in der Politik haben, z.B. Frauen, ethnische Minderheiten, Arbeitslose, usw. Natürlich ist es im Grunde nur ein geringer Teil des Stadtbudgets das so verhandelt wird, aber es ist eben das frei verfügbare, genau der Teil, der bei uns nach dem „Ermessen“ von PolitikerInnen vergeben wird.
Die wichtigsten Aspekte des PB in Porto Alegre sind:
- Der partizipative Prozess umfasst die ganze Stadt, die Menschen treffen sich ihn ihren Wohnvierteln, diskutieren und stimmen über Prioritäten ab, die dann, mit einem Delegiertensystem, zwischen den Wohnvierteln weiter verhandelt werden.
- Die Verhandlungen basieren auf einem akzeptierten System von Kriterien, die sich an den Bedürfnissen und der Bewohnerzahl orientieren und die transparent sind.
- Der Partizipationsprozess wird von der Regierung unterstützt, das Einbringen von Vorschlägen und Verhandeln von Prioritäten ist aber selbstorganisiert und unabhängig von der Regierung.
- Jeder Bürger / jede Bürgerin hat das Recht, teilzunehmen.
- Die Partizipation erstreckt sich auch auf die Budgetentscheidungen und die Implementierung wird von den Bürgern überwacht.
Paradoxerweise war es gerade der Erfolg des PB, der es schließlich wieder schwächte. Die PT wurde immer stärker und zuletzt waren 10% ihrer Mitglieder in Regierungspositionen, was zu einer Spaltung der Partei zwischen politischen Eliten und Basis führte, ein Prozess, der sich im Präsidentenwahlkampf von Lula noch vertiefte, weil Grundwerte der Partei wahltaktischen Kalkülen geopfert wurden. Trotzdem hat sich die Institution PB gefestigt, es gibt sie nun seit 17 Jahren. Um Korruption wirkungsvoll zu verhindern, wäre es aber noch notwendig, auch andere Bereich der Stadtverwaltung unter die Kontrolle der BürgerInnen zu bringen, etwa die Planungs- oder Bauabteilung. Es gibt auch zu wenig Abstimmung zwischen dem, was über des PB organisiert wird, und anderen Planungsinstanzen der Stadt.
New Deal for Communities in England
Nachdem unter der Regierung Thatcher öffentliche Ausgaben massiv zurückgefahren – oder besser gesagt, in Richtung Privatwirtschaft umgeleitet – wurden, wurden ganze Stadtteile vernachlässigt und es fehlte an Einrichtungen für viele Bevölkerungsgruppen, aber auch an grundlegenden Dingen wie Nahversorgung, Müllabfuhr, usw. Unter Tony Blair wurde ein Förderprogramm für diese Stadtteile und Gemeinden eingeführt, der „New Deal for Communities“. Voraussetzung für die Mittelvergabe war, dass diese Projekte „community led“ sein sollten. Dafür fällt mir jetzt keine bessere „Übersetzung“ ein, als das – ebenfalls englische – „bottom up“. Auch leo gibt dazu nix her. Schon seltsam, dass es im Deutschen nicht einmal ein Wort dafür gibt. Das sollte uns zu denken geben. Aber auch in England war es natürlich trotzdem häufig so, dass die Aufträge für die Entwicklung der Stadtteile an Immobilienentwickler vergeben wurden, die dann eben Pseudopartizipationsprozesse starteten. Aber in einigen Fällen ist es BürgerInnen doch gelungen, sich mit ihren Ansprüchen durchzusetzen, und wirkliche Entscheidungsmacht über die Vergabe öffentlicher Mittel zu erlangen und dann zu einem guten Teil auch selbst davon zu profitierten.
Die Voraussetzung dafür war einerseits, dass es vor Ort eine starke Tradition der Selbstorganisation gab und auch Menschen, die in der Lage waren, solche Prozesse zu initiieren, anzuleiten und am Leben zu erhalten. Andererseits ist es aber notwendig, dass es auch in Politik und Verwaltung Menschen gibt, die solche Entwicklungen nicht nur zulassen, sondern auch fördern und unterstützen. Auf Seite der BewohnerInnen waren das entweder Leute aus der Gewerkschaftsbewegung, in Manchester vor allem aus deren autonomer Tradition, aber in einem Fall auch Leute, die aus der autonomen Jugendszene kamen. Diesen Fall fand ich besonders interessant, weil er mich an die Situation in Graz erinnerte. Vor mehr als 10 Jahren entstand in Graz das erste autonome Jugendzentrum, das „Sub“. Das Sub gibt es immer noch, wenn auch inzwischen schon mehrere Generationen von Jugendlichen durchgegangen sind. Aber überall wo in Graz interessante Dinge geschehen, trifft man auf Leute, die dort ihre Erfahrungen gesammelt haben.
Das Projekt im Buch fand in Luton statt, wo es offensichtlich einen sehr vernachlässigten Stadtteil gab, das Marsh Farm Estate. Es gab dort vor allem für Jugendliche keine Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, soziale Probleme verschärften sich und es kam zu Protesten und Gewalttätigkeiten. Da entstand eine Gruppe, die sich Exodus-Kollektiv nannte (gibt auch ein paar Videos darüber auf youtube) und begann, erst im Freien, dann in besetzten Häusern, gratis Feste und Konzerte zu organisieren. Sie schafften es offensichtlich die Jugendlichen zu selbstorganisierten Aktivitäten anzuregen und ihnen so sinnvolle Tätigkeiten zu ermöglichen. Natürlich waren sie sehr umstritten, es gab auch immer wieder mal Verbote und Polizeieinsätze, sie wurden aber schließlich akzeptiert, weil sie die einzigen waren, die es schafften, das „Problem“ mit den Jugendlichen zu lösen. Als nun die neuen Förderprogramme ins Leben gerufen wurden, waren es vor allem Menschen, die zeitweise in diesem Kollektiv gearbeitet und dabei Erfahrungen mit Selbstorganisation gemacht hatten, die eine führende Rolle einnahmen in diesen Beteiligungsprozessen und es schafften, dass sich ein breites Netzwerk bildete, das gemeinsam um die Förderung einreichte und sich mit seinen Plänen auch bei den Fördergebern durchsetzen konnte. Zusätzlich holten sie nicht eine der üblichen Beratungsfirmen, die solche Prozesse für Städte oder Unternehmen durchführen, sondern eine, die den BewohnerInnen wirklich den Rücken stärkte in der Auseinandersetzung mit den Behörden. In den 10 Jahren der Projektlaufzeit kam es auch manchmal zu Eklats, wo dann die Verwaltung meinte, so könne das doch nicht weiter gehen, die Ziele werden nicht erreicht, die Abwicklung sei nicht ausschreibungskonform, usw. Sie setzten dann Andere ein, die das Projekt weiter koordinieren sollten. Zu deren BürgerInnenversammlungen kamen aber keine Leute. So gelang es trotzdem immer wieder, im Sinne der BewohnerInnen weiter zu machen.
Ein weiterer interessanter Aspekt: als das Exodus-Kollektiv damals begann, die Konzerte zu veranstalten, kam es zu Beschwerden der Gasthäuser im Ort, weil diese einen Umsatzrückgang verzeichneten. Da wurde ihnen klar, dass es eine Art solidarische Ökonomie ist, die sie hier betreiben. An dieser Idee wurde weiter gearbeitet. Man schaute, wofür wieviel Geld für diesen Stadtteil ausgegeben wurde und gründete dann solidarische Unternehmen, die diese Dienstleistungen übernahmen, damit das Geld auch den Menschen, die dort leben, zugute kam und nicht irgendwelchen profitorientierten Anbietern. Was mich dabei beeindruckt hat: es hat nicht irgend ein „sozial verantwortungsbewusster Unternehmer“ eine Firma gegründet, um dort Arbeitslose anzustellen, sondern die haben das selber gemacht.
Ein Nachteil bei dieser Vorgehensweise war, dass dadurch auch immer mehr Menschen direkt in die Geldflüsse involviert wurden, deren Unternehmen dann aber nicht mehr transparent und der demokratischen Kontrolle unterworfen waren. Die Menschen, die in solchen Unternehmen arbeiten und von den öffentlichen Aufträgen abhängig sind, haben dann auch kein Interesse mehr an solchen Partizipationsprozessen. Auch hier also wäre es notwendig, dass die Menschen nicht nur über die Geldvergabe entscheiden, sondern auch über die Erbringung und Qualität der Dienstleistungen mitreden können sollten.
Trondheim, Grottamare, Sevilla
In Trondheim ging die Initiative für eine Restrukturierung der städtischen Dienstleistungsbetriebe von der Gewerkschaft aus. Als der Privatisierungsdruck immer größer wurde, beschloss die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten über ihren eigentlichen Wirkungsbereich hinaus tätig zu werden. Sie setzte sich nicht mehr nur für die Arbeitsrechte der Bediensteten ein, sondern startete einen Prozess, in dem gemeinsam mit NutzerInnen und der Stadtregierung das ganze System der Dienstleistungen umgekrempelt wurde und eine Privatisierung verhindert werden konnte. Auch hier konnte durch die Zusammenführung des kollektiven Wissens von MitarbeiterInnen, NutzerInnen und Verwaltung Effizienz und Qualität verbessert und die Kontroll- und Mitbestimmungsmöglichkeiten verstärkt werden. Mehr Infos gibt es hier, Asbjorn Wahl, der hier berichtet und an führender Stelle beteiligt war, ist übrigens Mitglied von Attac Norwegen 😉
Ein weiteres Beispiel in Wainwrights Buch ist das italienische Dorf Grottamare, das von Immobilienfirmen in ein Tourismuszentrum umgebaut werden sollte. Die kommunistische Partei startete eine Kampagne dagegen, mit der sie die ablehnende Stimmung im Ort kanalisieren konnte und in die Stadtregierung gewählt wurde. Im gemeinsamen Widerstand von Stadtregierung und Bevölkerung ist ein Modell partizipativer Demokratie entstanden, in dem BürgerInnenkomitees in allen Bereichen der Gemeindeverwaltung weitgehende Mitbestimmungsrechte bekommen haben und die Menschen sich dementsprechend auch für viele Dinge in ihrer Gemeinde verantwortlich fühlen. Ausgehend von diesem Beispiel hat sich in Italien inzwischen ein Netzwerk von Gemeinden gebildet, die Elemente partizipativer Demokratie in ihren lokalen Regierungen installiert haben, das „Rete del Nuovo Municipio“.
Schließlich ging die Reise noch nach Sevilla, wo nach dem Modell von Porto Alegre ebenfalls ein Bürgerbudget eingeführt wurde, wie auch schon in vielen anderen europäischen Städten, wie man z.B. hier nachlesen kann. Überhaupt trifft für alle diese Experimente zu, dass sie weit über die Region hinaus Interesse erregten und sich Nachahmer fanden.
Wann funktioniert es also?
Um solche Prozesse die Regel werden zu lassen, müssen wir die Frage klären: unter welchen Bedingungen ist es möglich, dass BürgerInnen von Objekten der Politik zu ihren Subjekten werden? Einige Punkte stehen im letzten Kapitel des Buches, einiges ist mir selber auch noch dazu eingefallen.
- Engagement und Bereitschaft von oben und unten
Es braucht die richtigen Personen auf Seiten von Politik, Verwaltug und bei den BewohnerInnen in den Stadteilen. „Echte“ partizipative Prozesse haben einen nicht vorhersehbaren Ausgang, das ist gerade ihre Stärke. Durch die Zusammenführung des kollektiven Wissens der Menschen sind innovative und unorthodoxe Lösungen möglich, es entsteht die Chance für echte soziale Innovation, die auch die Institutionen verändert. Politik und Verwaltung müssen das auch aushalten, akzeptieren und sich darauf einlassen. Aber damit es funktioniert braucht es auch entsprechende Traditionen und Menschen mit entsprechenden Erfahrungen und Fähigkeiten auf Seiten der BürgerInnen.
- Capacity building
Ein weiteres Wort, für das es keine adäquate deutsche Übersetzung gibt. Es geht um Befähigung und Ermächtigung. Menschen, die lange Jahre nur Objekte von Politik waren, müssen die neue Rolle erst lernen. Darum ist eine der Voraussetzungen auch, dass den Menschen die Chance gegeben wird, die Fähigkeiten dafür zu entwickeln. Die Angebote, die Räume und die Zeit dafür müssen zur Verfügung stehen, auch wenn einmal etwas schief geht, darf das nicht gleich das Ende bedeuten. Es kommt aber auch auf das Menschenbild an. Es muss das Vertrauen bestehen, dass Menschen grundsätzlich in der Lage sind, über ihre Angelegenheiten kollektiv selbst zu entscheiden.
- Ausdauer und Durchsetzungsfähigkeit
Die Beschreibung dieser Experimente erinnert mich ein wenig daran, was Peter Linebaugh in seinem Buch The Magna Carta Manifesto über die Eigenschaften der Commoners schreibt: sie brauchen einen langen Atem und die Bereitschaft zu streiten. Denn in fast allen Fällen ist es notwendig, einen ständigen Druck auf die Politik aufrecht zu erhalten und sich nicht vertrösten und beschwichtigen zu lassen, sondern wirklich die Rechte einzufordern. Die Herstellung und Erhaltung solcher Initiativen kostet Zeit und Mühe.
- Ein gewisses Ausmaß an Institutionalisierung
Es braucht kontinuierliche Abläufe, verbindliche Regelungen, eigene Institutionen und auch die notwendigen Räume und definierten Zuständigkeiten, damit solche Prozesse dauerhaft die gewünschte Wirkung entfalten können, und es braucht auch die notwendigen Ressourcen. Das heißt, es braucht verlässliche Rahmenbedingungen und diese müssen auch von allen Beteiligten gemeinsam entwickelt werden, damit sie Anerkennung finden.
Aber letztlich gewann ich den Eindruck, dass bei allen strukturellen und institutionellen Veraussetzungen, bei aller Notwendigkeit zu Vernetzung und Kooperation, bei aller Wertschätzung kollektiven Wissens und Handelns, es eben doch auf einzelne Menschen ankommt, die auf den verschiedenen Ebenen des Prozesses sich für seine Erhaltung einsetzen und das Vertrauen aller erwerben können.
Hindernisse und Grenzen
Was sind die Hindernisse und Grenzen solcher Aktivitäten? Nun, wie eigentlich schon aus den Gelingensbedingungen hervorgeht, wenn die Personen sich ändern, etwa durch Neuwahlen, kann das das ganze Projekt gefährden. In Porto Alegre etwa war es so, dass die PT abgewählt wurde, die Nachfolgerpartei zwar von Anfang an versprochen hatte, den Prozess des partizipativen Budgets beibehalten zu wollen, aber es hat für sie nicht mehr die gleiche Bedeutung. Es kommen keine Politiker mehr zu den Treffen, der Anteil des Budgets der auf diese Weise vergeben wird, nimmt ab, es ist eher eine Routine, die abgespielt wird, aber der Schwung dahinter ist weg. Da scheint auch etwas mitzuspielen, dass Dinge, sobald sie als „normal“ gelten, auch von den BürgerInnen nicht mehr mit dem gleichen Elan und Nachdruck verfolgt werden und dann langsam einschlafen.
Ein weiterer Aspekt sind natürlich die finanziellen Ressourcen. Die Projekte zur Stadteilregenerierung in England waren auf 10 Jahre angelegt. Niemand weiß, was passieren wird, wenn die Zeit um ist und das Geld ausbleibt. In Luton ist eine Organisation entstanden, die die sozialen Unternehmen und Initiativen weiterführen soll. Ob des Ausmaß der Selbstorganisation erhalten bleibt, ist fraglich, auch wenn im Internetauftritt versichert wird, dass man die Tradition weiter verfolgen wird. Wenn es keine Fördergelder mehr gibt und mehr private Investoren beteiligt sind, wird die Kontrolle über die Mittel durch BürgerInnen sicher schwieriger.
Und auch die Beschränkung auf bestimmte Stadtteile reduziert die Entscheidungsmöglichkeiten der BürgerInnen. Für die Umsetzung vieler Ideen wären Entscheidungen auf höherer Ebene notwendig, für die ganze Stadt oder sogar Gesetzesänderungen, die aber im Rahmen dieser Beteiligungsprozesse nicht möglich sind.
Dann beeinflusst natürlich die nationale Politik massiv, wieviel Geld überhaupt zur Verfügung steht. Wenn etwa nationale Regierungen im Zuge von Sparprogrammen die Mittel für Gemeinden drastisch kürzen, besteht die Gefahr, dass die Institutionen der Bürgerbeteiligung in die Rolle der Mangelverwaltung gedrängt werden, bzw. BürgerInnen selbst dann diese Sparprogramme exekutieren müssen und immer mehr Aufgaben von den Gemeinschaften selbst übernommen werden, was oft auf Kosten der Qualität geht. Dieses Phänomen hat Wainwright z.B in Porto Alegre festgestellt, nachdem Lula Präsident wurde und sich den Sparanforderungen des IWF unterwarf.
„In and against the state“
Daraus leitet sich die zentrale Frage ab: Nämlich, können Menschen die sich in solchen Beteiligungsprozessen engagieren, so viel Unabhängigkeit bewahren, dass sie bei Bedarf auch noch gegen den Staat protestieren können? Besteht nicht die Gefahr, dass, wenn Menschen so viele Möglichkeiten zur Mitgestaltung haben, also ihre Macht über die Verteilung öffentlicher Mittell einfordern und auch bekommen, PolitikerInnen sich aus der Verantwortung stehlen können, in dem sie sagen, ihr seid ja selbst schuld, ihr habt es ja so gewollt? Nimmt nicht, bei den Menschen, deren Initiativen von der Stadt finanziert werden, auch die Bereitschaft ab, sich noch an solchen Prozessen zu beteiligen, aber auf Grund der Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln auch die Möglichkeit, sich Forderungen von oben zu widersetzen?
Ich denke, dass man dabei erstens zwischen den verschiedenen politischen Ebenen unterscheiden muss. Was hier recht allgemein als „Staat“ bezeichnet wird, sind ja meist die lokalen und regionalen Behörden. Städte und Gemeinden werden aber von den nationalen Regierungen ohnehin oft selbst nach dem Motto „die Letzten beißen die Hunde“ behandelt und bekommen immer weniger Geld für immer mehr Aufgaben. Da kann dann eine lokale politische Beteiligung die Möglichkeiten, sich gegen die Zumutungen nationaler Spar- oder Privatisierungsprogramme zu Wehr zu setzen, sogar verbessern. Hier könnten BürgerInnen sich mit den lokalen Regierungen verbünden und beide dadurch mehr Durchschalgskraft bekommen.
Andererseits ist es schon notwendig, sich die Möglichkeiten des Widerstandes offen zu halten und aufzupassen, dass sich keine zu großen Abhängigkeitsverhältnisse ergeben. Es geht also um ein ständiges Ausbalancieren von Macht und Verantwortung, damit nicht ein Großteil der Entscheidungsmacht bei der Regierung bleibt, finanzielle Mittel gekürzt werden und die Verantwortung an die BürgerInnen abgegeben wird, wie etwa bei Camerons „Big Society“ Konzept.
Und was hat das mit Commons zu tun?
In allen diesen Prozessen sehe ich viele Ähnlichkeiten zu Commons: Sie existieren nicht von selbst, sie entstehen durch Selbstermächtigung und Aneignung, sie geben den Menschen mehr Kontrolle über ihre Lebensbedingungen, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie Commons, und es kostet Zeit und Mühe, sie zu erhalten. Menschen müssen dafür kommunizieren und kooperieren, die Regeln und Institutionen dürfen nicht von oben verordnet werden, sondern müssen im Prozess gemeinsam entwickelt werden, damit sie von allen anerkannt werden. Auch hier geht es nicht ohne Ressourcen, sonst kann man eben nicht von „echter“ Partizipation sprechen. Auch sie sind immer bedroht, und müssen immer wieder reproduziert werden. Dann aber verändern sie soziale Beziehungen, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und auch die Menschen selbst. Daher denke ich, dass die Commons-Diskussion schon einen Beitrag leisten kann, um auch solche Prozesse besser zu verstehen und organisieren zu können.
Außerdem, wenn wir sagen, dass es unterschiedliche Arrangements zwischen Staat und Commons geben kann, in denen der Staat unterschiedliche Funktionen übernehmen kann, dann hieße das eben auch vielfältige Arrangements von Beteiligungs-, Mitbestimmungs- und Kontrollmöglichkeiten. Manchmal eben, wo es sich um reine Commons handelt, echte Selbstverwaltung, in anderen Bereichen hätten BürgerInnen weitgehende Mitbestimmungs- und Kontrollrechte, die Verwaltung und Organisation läge aber beim Staat, bzw. der Stadtregierung, es ginge also um die letzten beiden Stufen der Partizipation.
Es gibt ja Menschen, die sagen der Staat sei ein Produkt des Kapitalismus und daher müsse man auch den Staat abschaffen. Ich glaube, dass wir ihn uns vielleicht auch aneignen könnten, dass es nicht ausgemacht ist, dass der Staat immer nur ein Handlanger des Kapitals ist, sondern auch im Sinne der Interessen der BürgerInnen handeln kann, wenn wir unsere Rechte einfordern. Und damit können wir, ganz im Sinne der „Keimform-Idee“, im Hier und Jetzt anfangen. Dort wo sich eben die Chancen ergeben, können wir sie ergreifen um nicht-staatsförmige Institutionen und Prozesse demokratischer Kontrolle über öffentliche Mittel zu entwickeln. Das muss natürlich Teil eines gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesses sein, wenn es wirklich zu Systemveränderungen führen soll. Das bezeichnet Wainwright als „struggles in and against the state“, also einerseits für die Mitsprache und Kontrollmöglichkeiten innerhalb des politischen Systems zu kämpfen, sich dabei aber nicht die Legitimation nehmen zu lassen, sich notfalls auch staatlichen Interventionen, Maßnahmen oder Gesetzen zu widersetzen. Dass das möglich ist, zeigen die Beispiele im Buch und auch noch viele andere.
Natürlich kann man das auch in Frage stellen, und das tun auch manche. Davon handelt der nächste Beitrag.