Die Menschen auf der Balkanroute nennen es beim Namen: den Versuch über die Grenze von Bosnien nach Kroatien zu gelangen, bezeichnen sie als das „Game“. Es ist eher ein Glückspiel, manche nehmen es aber auch sportlich – und viele sind daran beteiligt. Es geht dabei um einen hohen Einsatz, aber selten ums nackte Leben. Anders für die Menschen, die in Libyen in ein wackeliges Schlauchboot steigen, für sie ist es eine Reise auf Leben und Tod. Aus ihrer Sicht von einem Spiel zu sprechen wäre geschmacklos. Für alle anderen geht es aber bei allem was derzeit an Europas Grenzen passiert in erster Linie um Machtkämpfe und nicht um die Menschen, die aus welchen Gründen immer ihre Herkunftsländer verlassen mussten, um in Europa ein besseres Leben zu beginnen. Nicht einmal, wenn sie abgeschoben oder sonst schlecht behandelt werden geht es wirklich um diese Menschen, sondern darum, im eigenen Land Punkte und Stimmen zu sammeln, den Diskurs vorzugeben, von anderen Themen abzulenken usw. Die Menschen auf der Flucht sind bestenfalls der Einsatz in diesem Spiel, Manövriermasse für die Durchsetzung verschiedener Interessen, was natürlich im Fall der Mittelmeerroute besonders zynisch ist.

Kreisverkehr

Zum ersten Mal aufgefallen ist mir das in den ersten Tagen in Velika Kladuša. Wir sammeln Spenden in der EU, Kleidung, Schuhe, Schlafsäcke, Jacken, Smartphones. Es kommen Freiwillige aus der EU, um – gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung – diese Sachen an Menschen auf der Flucht zu verteilen. Sie versorgen sie abends noch mit Essen für das Game. Und die meisten sind am nächsten Tag wieder hier, ohne Smartphones, Schuhe, Jacken und Schlafsäcke. Die wurden ihnen von der Polizei eines EU-Landes abgenommen und zerstört. Also sammeln wir wieder Spenden für das nächste Game. Gut, dass es in der EU so viele überflüssige Kleidung gibt, und dass wir jedes Jahr ein neues Smartphone brauchen, aber ist das die beste Verwendung dafür?

Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man es wirklich als kindisches Spiel betrachten: es gibt eine Gruppe von Menschen, die versucht über die Grenze zu kommen, eine zweite Gruppe, die mit allen Mitteln versucht, sie daran zu hindern und eine dritte Gruppe, die ebenso mit allen Mitteln versucht, die erste dabei zu unterstützen. Für Kinder mag das spannend sein, für Staaten ist es eher peinlich, für die betroffenen Menschen entwürdigend. Denn die politische Situation ist nun einmal so, dass diejenigen, um die es eigentlich geht, nämlich die Menschen, die die Grenze überqueren wollen, weitgehend zu Statisten in dem Machtspiel zwischen Parteien, Regierungen, anderen öffentlichen Stellen und Teilen der Zivilgesellschaft werden, denn sie selbst haben keine Stimme.

Die Guten gegen die Bösen

Ähnlich ist die Situation im Mittelmeer. Italien sperrt die Häfen, Salvini erlässt Gesetze, die Seenotretter kriminalisieren, er will damit vor allem seinen Anhängern imponieren und gegenüber der EU seine Macht demonstrieren. Für jedes Schiff, das in einem Hafen festgehalten wird, werden neue gekauft und ausgerüstet. Millionen Euro sind schon aus der Zivilgesellschaft in diese Schiffe investiert und für die Prozesse der angeklagten Besatzungsmitglieder gesammelt worden. Das ist ganz großartig, weil es zeigt, dass erstens doch viele Menschen nicht wollen, was hier vorgeht und zweitens, weil es zeigt, dass es in Europa immer noch sehr viel mehr Geld gibt, als hier zum Leben gebraucht wird, wir uns also sicher noch neue Mitbürger*innen leisten könnten.

Aber es ist eben genau so absurd wie das Spiel an der bosnischen Grenze. Regierung blockiert Schiff, Zivilgesellschaft kauf neues – wer hält länger durch? Ich fürchte, dass die Regierungen den längeren Atem haben werden, aber darum geht es gar nicht. Vor lauter Konzentration auf den Wettkampf geht nahezu unter, dass die Zivilgesellschaft überhaupt kein Rettungsschiff kaufen sollte, weil das Aufgabe der Regierungen wäre und die Küstenwachen und das Militär sicher genug solcher Schiffe hätten. Und für das Geld aus der Zivilgesellschaft gäbe es genug andere Verwendungszwecke: Unterstützung von Sprachkursen und sonstigen Ausbildungen, medizinische und psychologische Behandlung, Fahrkarten, einen Fonds für Kautionen für Wohnungen für die neuen Mitbürger*innen und und und …

Persönlich bin ich immer weniger bereit, für diese Machtspiele Geld zu spenden, denn wenn die funktionsfähigen Schiffe im Hafen festgehalten werden, warum sollten neue gekauft werden? Wozu soll ich einen Schlafsack oder ein Handy spenden, wenn ich weiß, dass beide doch beim nächsten Versuch über die Grenze zu kommen, zerstört werden? Ich habe aber den Eindruck, dass es gerade dieser Wettkampf ist, der manche Leute motiviert, immer noch mehr zu spenden, nach dem Motto „Salvini (oder die kroatische Polizei, oder …) darf nicht gewinnen“. Für weniger umstrittene Dinge würde möglicherweise gar nicht so viel Geld zusammenkommen. So aber weiß man, mit jedem Euro für die Seenotrettung hat man sich selbst und anderen bewiesen, dass man zu den Guten gehört.

Und zwischen den Anstrengungen, die Grenzen immer noch dichter zu sichern auf der einen Seite und den Anstrengungen immer neue Spenden aufzutreiben, immer neue Finten zu erfinden, auf der anderen Seite, verschwinden die Bedürfnisse der Betroffenen und die Frage, wie die reichen Europäischen Länder mit den zunehmenden Migrationsbewegungen umgehen sollen, vollkommen von der Tagesordnung.

Stadt gegen Staat

Auch zwischen staatlichen oder politischen Einheiten gibt es solche Machtspiele. Die Stadt Bihac eröffnet ein Flüchtlingscamp auf einer ehemaligen Müllhalde, 10 km von der Stadt entfernt, im Nirgendwo. IOM und Rotes Kreuz haben es abgelehnt, das Lager zu führen, keine geeigneter Platz, hieß es. Die Stadtpolizei bringt die Menschen trotzdem hin und Leute aus der lokalen Bevölkerung ebenso wie Freiwillige aus EU-Ländern sorgen dafür, dass es zumindest einigermaßen funktioniert. Der Bürgermeister sagt, das sei ein geeigneter Platz für das Lager, denn es liege auf dem Weg zur Grenze und da wollen diese Leute ja nun einmal hin. Und das stimmt aus seiner Sicht – schließlich will die Stadt diese Leute los werden und das kann man ihr nicht einmal verdenken. Wieso sollten sie all diese Menschen wollen, die die EU nicht haben will und die in Bosnien nicht ausreichend versorgt werden, auf der Straße leben und mangels medizinischer Versorgung und Duschmöglichkeiten auch ein hygienisches Problem darstellen. Und auch aus Sicht der Menschen auf der Flucht wäre dieser Platz vermutlich gar nicht so schlecht, wenn er eben nur eine Durchgangsstation auf ihrem Weg wäre. Ein Basiscamp für den Weg über die Berge sozusagen.

Nun wollen aber die Regierungen – die europäischen und in ihrem Auftrag auch die Bosnische – genau das nicht. Sie wollen die Menschen möglichst weit weg von der Grenze unterbringen, Manövriermasse in Machtspielen wieder. Und nur wenige Wochen nachdem das neue Lager eröffnet wurde, ist auch der neue Grenzübergang wieder dicht, Polizei und Hubschrauber sorgen dafür. Es sind wieder die Menschen auf der Flucht, die zwischen allen Stühlen sitzenbleiben und sich nicht wehren können.

Dass die rechten Parteien seit Jahren das Thema dazu missbrauchen, um mit Angstmache und Hetze ihr Wählerpotenzial aufzubessern muss gar nicht mehr extra erwähnt werden. Auch hier sind diejenigen um die es eigentlich gehen sollte, nur Mittel zum – schlechten – Zweck.

Part of the Game

An meinem ersten Tag in Bosnien hat es Daka gesagt: „It‘s a big game and we all are part of it.“ Damals habe ich es noch gar nicht so wirklich verstanden. Mit der Zeit ist es mir immer klarer geworden. Eigentlich will ich nicht Teil dieses Spiels sein, aber sobald ich anfange, mich damit zu beschäftigen, was an Europas Grenzen passiert, kann ich mich aus diesem Spiel nicht mehr heraushalten. Sobald ich anfange, mich für Menschen auf der Flucht zu engagieren, stehe ich auf einer Seite. Gebe ich einem Mann aus Afghanistan in Velika Kladusa oder einem aus Pakistan in Bihac Schuhe oder einen Schlafsack – oder auch nur ein Essenspaket – habe ich ihn für das Game ausgerüstet und mich damit klar gegen die europäische Grenzpolitik gestellt.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ich finde das ganz großartig, was da von Ehrenamtlichen geleistet wird, von ganz normalen Menschen. Das ist ein wunderbares Zeichen von Menschlichkeit – wenn neben dir jemand Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn neben dir jemand kein Dach über dem Kopf hat, besorge ihm eines – so haben Menschen immer gelebt und es ist wichtig, dass das auch heute noch funktioniert. Vermutlich wäre es um vieles billiger und würde besser funktionieren, wenn viel mehr in der Flüchtlingshilfe so organisiert wäre. Allerdings läuft es in der Regel so ab, dass Regierungen oder internationale Organisationen so bald wie möglich versuchen, die Kontrolle zu übernehmen und die Freiwilligen zu verdrängen, denn diese könnten die Pläne der Regierungen gefährden. So kommt es, dass sich die Zivilgesellschaft immer öfter in der Rolle sieht, die Rechte der Schutzsuchenden gegen ihr eigenen Regierungen zu verteidigen und in dem Augenblick wird Hilfe zum Teil der Machtspiele.

Aber auch viele andere sind Player in diesem Game. Nicht zuletzt sind auch wirtschaftliche Interessen im Spiel. Hunderte oder Tausende Menschen in der Stadt, die versorgt werden müssen, sind ein Wirtschaftsfaktor, auch wenn sie nicht viel Geld haben. Zimmervermieter, Telefonverkäufer und andere verdienen damit, von den Schleppern gar nicht zu reden – die je nach Sichtweise auch Fluchthelfer heißen. Für den Tourismus ist es eher nicht von Vorteil, wenn die Stadt voller wohnungsloser Menschen ist. Auch hier stehen wieder Interessen gegeneinander, die nicht mit den Interessen der Menschen auf der Flucht vereinbar sind, aber diese bleiben ja sowieso unsichtbar.

Andere wichtige Akteur*innen im Spiel: Asylgerichte und Rechtsberater*innen, auch oft im Wettkampf gegeneinander. Einer von diesen Akteuren hat vor kurzem das Handtuch geworfen. Der bekannte steirische Rechtsanwalt, Ronald Frühwirth, in den letzten Jahren auf Asylrecht spezialisiert, hat seine Kanzlei geschlossen.

In zu vielen Gesprächen musste ich diesen Unwillen eines Rechtssystems, Rechte anzuerkennen, Menschen vermitteln, deren Existenz damit ins Wanken geriet. Dabei geriet nun meine Verbundenheit mit diesem Rechtssystem ins Wanken. Als Rechtsanwalt bin ich Teil davon. Das möchte ich nicht mehr sein,

schreibt er auf seiner Webseite. Das ist ein starkes Signal und nur zu verständlich aus seiner Sicht. Aber kann man das? Kann man nicht Teil dieses Systems sein? Ist nicht gerade dieser Schritt und die öffentliche Begründung nur ein Rollenwechsel in diesem Spiel? Kann man sich aus diesem Spiel, das gerade quer durch Europa gespielt wird, heraushalten? Ist man nicht auch Teil davon, wenn man gar nichts macht? Ich weiß es nicht, ich bin mir nur ziemlich sicher, dass derzeit viel zu viele Energien und Ressourcen in dieses Spiel fließen, die wir dringend woanders brauchen würden.

Die Tätigkeiten der Zivilgesellschaft sind lebensnotwendig in Notsituationen und sie sind unentbehrlich, um den neu Ankommenden gute Startbedingungen hier zu geben. Wenn aber die Motivation für die Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Akteur*innen mehr im Widerstand gegen die Regierungen liegt als in der Hilfe für die schutzsuchenden Menschen, dann läuft etwas falsch. Dann gehen zu viele Ressourcen in den Wettkampf und viele wirklich wichtige Dinge werden versäumt. Diesen Wettkampf kann auch niemand gewinnen, er stellt eine für alle unbefriedigende Situation auf Dauer. Deshalb wäre es hoch an der Zeit, aus dem Kindergartenmodus herauszukommen und konstruktiv an Lösungen zu arbeiten. Mit allen Betroffenen.

 

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