Ein ähnliches Problem wie mit der Klimabewegung habe ich auch mit den Konzepten Degrowth und der Postwachstumsökonomie, zu denen ich bei der deutschen Attac-Sommerakademie in Marburg sprechen sollte. Denn eine Rücknahme des Wachstums, ein Ende des Wachstumszwanges, unter den heutigen Verhältnissen als isolierte Forderung auszusprechen, kommt verständlicherweise nicht gut an. An Griechenland können wir live beobachten, was das heißen würde. Auch da muss zuvor der Paradigmenwechsel und Systemwandel kommen. Dass ein solches zukunftsfähiges System dann nicht mehr unendlich wachsen müsste, versteht sich von selbst.

Die Ansatzpunkte und primären Ziele sind jedoch andere, wie ich sie eigentlich schon seit Jahren immer wieder in meinen Vorträgen skizziere und für die sich unterschiedliche soziale Bewegungen einsetzen:

  • Beseitung der Armut und sozialer Ungleichheit, vor allem auch zwischen dem globalen Norden und Süden – Postdevelopmentstrategien
  • Neue Formen von Demokratie und Beteiligung
  • Ernährungssouveränität und Energiesouveränität
  • Erhalt und Ausbau öffentlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen
  • Eine De-kommodifizierung der Bereiche, die der Befriedigung der Grundbedürfnisse dienen
  • Kleinbäuerliche Landwirtschaft und Permakultur
  • Klimagerechtigkeit
  • Offenes Wissen, Transparenz öffentlicher und Schutz persönlicher Daten

Für all diese Bereiche könnte man leichter Unterstützung finden, als für die abstrakte Forderung nach Degrowth und man könnte auch konkreter darüber diskutieren und Konzepte erarbeiten.

Der Paradigmenwechsel schließlich müsste

  • andere Formen des Lernens und Forschens, der Wissensproduktion
  • ein anderes Menschenbild
  • ein anderes Verständnis von Arbeit
  • ein anderes Verständnis von Natur

hervorbringen.

Degrowth wäre eine logische Folge davon, aber eben nur eine von vielen, die an die erste Stelle zu stellen wenig Sinn macht. Die Argumente von Sabine Reiner von ver.di in der Diskussion waren gut durchdacht und schlüssig. Wer nur von Degrowth spricht, was dann noch oft mit „Schrumpfung“ übersetzt wird, hat keine Chance, Gewerkschaften mitzunehmen und natürlich auch nicht Menschen, die um ihre Arbeitsplätze fürchten oder gar keine haben.

Nur zur Sicherheit: wenn ich hier sage, der Systemwandel müsse an erster Stelle stehen, dann meine ich damit nicht so etwas, wie dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe und dass erst eine andere Gesellschaft kommen müsste, bevor wir sinnvolle Dinge tun können. Natürlich macht es Sinn und es ist auch notwendig heute bereits an den Modellen für morgen zu bauen, diesbezüglich hat sich meine Meinung nicht geändert. Meine Kritik bezieht sich nur darauf, einzelne Aspekte dieses Systemwandels herauszuheben und über andere zu stellen und den Anschein zu erwecken, sie könnten einzeln gelöst werden und alle müssen sich nun zum Beispiel erst mal ums Klima kümmern oder die Überwindung des Wachstumszwanges wäre ein ein Wert an sich, und könnte unabhängig von anderen sozialen und ökologischen Zielen erreicht werden.

Ich bin gerade dabei, das letzte Buch von Naomi Klein zu lesen, „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“ (auf Englisch „This Changes Everything„), und ich finde es sehr wichtig und sehr inspirierend. Gerade diesen Gedanken, dass es dasselbe extraktivistische System ist, das den Klimawandel ebenso verursacht, wie soziale Ungleichheit, Hunger, Einschränkungen der Demokratie oder die Privatisierung öffentlichen Eigentums, und dass daher ein Systemwandel unumgänglich ist und dieser nicht nur die Klimakrise sondern auch viele andere Probleme lösen würde, führt sie überzeugend aus. Dazu kommen noch jede Menge interessanter Informationen über „Klimaleugner“, das Versagen marktförmiger und technologischer Versuche das Klima zu „retten“ und die Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik. Nur diesen einen Punkt, dass der Klimawandel der Anlass sein sollte, unter dem sich alle vereinen, teile ich nicht mit ihr: gerade wenn es doch all die verschiedenen Krisen sind, die von dem gleichen System verursacht werden, müssen wir uns jetzt eben nicht alle auf den Kampf gegen den Klimawandel einschwören, sondern all die vielen Bewegungen können sich gegenseitig in ihren jeweiligen Kämpfen unterstützen, in dem Wissen, dass jede Veränderung – zum Guten wie zum Schlechten – alle und alles betrifft, so wie es der englische Titel ja auch ausdrückt.

Mein Unbehagen, einzelne Aspekte herauszuheben hat auch damit zu tun, dass sich in den letzten Jahren, vor allem in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Macht- und Geldkonzentration massiv verschärft hat, dass neoliberale Politiken mit noch mehr Nachdruck durchgezogen werden und Repressionen gegen Andersdenkende massiv zunehmen. Das Exempel Griechenland hat klar gemacht, dass keynesianische Politik in Europa nicht zugelassen wird; dass es bei den sogenannten „Rettungspaketen“ keineswegs um das Wohl der Menschen geht, sondern darum, ein bestimmtes Weltbild und ein bestimmtes Gesellschaftssystem zu „retten“. Eines, das nur mehr auf schwachen Beinen steht, darum werden die Rundumschläge derer, die davon profitieren, immer verzweifelter und durch diese Verzweiflungstaten nehmen die Zerstörungen mit beängstigender Geschwindigkeit zu. Austeritätsprogramme, Freihandelsverträge, Privatisierungen, sie alle zielen in diese eine Richtung: noch mehr Konzentration von Macht und Geld, noch mehr Zerstörung von Umwelt, sozialer Sicherheit und Demokratie.

Alternativen, die wirtschaftliche Relevanz erreichen werden unter Druck gesetzt. Sei es durch Handelsverträge oder Saatgutverordnungen, durch Patente und Urheberrechte oder durch ein Kleinanlegergesetz, das das Crowdfunding bedroht (die Bedrohung konnte abgewendet werden, die Frage ist, wann die nächste kommt. Wo kommen wir den hin, wenn das Geld nicht zu den Reichen fließt?). Um gegen Kritiker besser vorgehen zu können gibt es ein neues Staatsschutzgesetz, Gesetze, die demokratische Rechte zu kriminellen Handlungen machen oder man ermittelt wegen Landesverrat gegen Menschen, die politische Machenschaften aufzeigen. Die Repressionen nehmen zu, die Rahmenbedingungen für Commoning – und alle anderen Alternativen – werden schlechter.

Früher konnten Großvorhaben noch verhindert werden, etwa in Zwentendorf oder Hainburg. Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts, vor allem durch die neuen globalisierungskritischen Bewegungen, schienen Systemveränderungen erreichbar (2006 zum Beispiel war ein gutes Jahr für Umwelt- und Klimagesetze), seit der Finanzkrise sind sie wieder in weite Ferne gerückt. Die angeblichen Maßnahmen zur „Rettung“ der Wirtschaft wurden massiv dazu verwendet, Staatsausgaben zu kürzen und weiterhin von unten nach oben umzuverteilen. Aus Angst vor dem Terrorismus werden BürgerInnenrechte und zurückgefahren, politische Entscheidungen werden von nicht demokratisch gewählten Gremien beinflusst, wenn nicht erzwungen – auch gegen den Willen der BürgerInnen.

Vor diesem Hintergrund wird es umso wichtiger, nicht einen der sozialen Kämpfe zu privilegieren, nicht ein Ziel über alle anderen zu stellen, sondern sich klar zu machen, dass es gegen ein ausbeuterisches System geht und dass dieses alle Lebensbereiche betrifft und dementsprechend ein Systemwandel ebenfalls alle Bereiche positiv beeinflusst. Wenn es hingegen nicht gelingt, uns gegen diese Rücknahme demokratischer und politischer Rechte zu wehren, haben wir auch keine Chance, die Gesellschaft zu verändern.