„Es gibt kein Gesetz, das alten Frauen verbietet auf Bäume zu klettern“. Das hat Astrid Lindgren gesagt. Von Mira Lobe ist das Kinderbuch „Die Omama im Apfelbaum„, das dieses Motiv ebenfalls aufnimmt. Beide haben sich in ihren Büchern dafür eingesetzt, dass Menschen, egal welchen Alters, lebendig sein dürfen, ihre Utopien leben und ihre Fähigkeiten entfalten dürfen. Unsere Gesellschaft tendiert eher dazu, all jene, die die Anforderungen an Rationalität, Leistungsfähigkeit und Produktivität nicht erfüllen, wegzusperren und ruhig zu halten, nur ja keine Lebendigkeit zuzulassen, weil diese sich nicht in standardisierte Abläufe zwängen lässt und als bedrohlich angesehen wird. Je nach finanzieller Ausstattung der Betroffenen können das auch manchmal goldene Käfige sein. Das Ziel ist jedoch immer, sie fern zu halten von der Partizipation an der Gesellschaft und mit Beschäftigungen zu versorgen, die für sie als angemessen gelten. Das gilt für Kinder und Jugendliche, aber ganz besonders auch für alte Menschen und für solche, die aus anderen Gründen zeitweise aus dem Marktsystem herausfallen.
Gestern zum Beispiel: ich war im Spektral, einem selbstverwalteten offenen Kulturzentrum, das, laut Eigendefinition „zur Vermittlung von Raum, Schaffensmöglichkeiten, Infrastruktur, Ideen, Wissen und Fähigkeiten dient. In erster Linie ist dieses Angebot Projekten und Individuen gewidmet, die aktiv sind oder aktiv werden wollen und sich in sozialen, kulturellen und künstlerischen Bereichen engagieren.“
Während die Hacker im Rahmen der „Open Week“ vor ihren Computern saßen, kam eine ältere Frau herein und fragte schüchtern, was denn das hier eigentlich sei. Wir begannen ein Gespräch und sie erzählte: Sie wohne seit kurzem in einer Einrichtung, die betreutes Wohnen anbietet, einige Häuser weiter. Dort gäbe es zwar einen Gemeinschaftsraum, der werde auch genutzt, für den Nachmittagscafé und für das wöchentliche Gedächtnistraining. Aber sie würde sich gerne, so wie sie es auch zu Hause gemacht hat, mit ihren Freundinnen treffen. Da würde gelacht, gesungen und Gitarre gespielt. Und das, so hatte man ihr zu verstehen gegeben, sei in diesem Gemeinschaftsraum nicht gerne gesehen. Auch malen würde sie gerne, aber auch das wäre schwierig in der neuen Wohnung. Also war sie auf der Suche nach einem Platz dafür.
Ich wünsche ihr, dass sie mit ihren Freundinnen im Spektral eine Zufluchtsort findet, denn mich macht es so wütend so etwas zu hören. Da werden alte Menschen daran gehindert, ihr Leben zu leben, ihre sozialen Beziehungen zu pflegen, Spass zu haben und laut zu sein. Dafür werden sie mit wöchentlichem Gedächtnistraining beglückt, das sie nur deshalb brauchen, weil man sie daran hindert, ihr Leben selbst zu gestalten. Unserer Pflegeindustrie kann keine alten Menschen brauchen, die „leben“ wollen, sie braucht Menschen, die zu den standardisierten Dienstleistungen passen, die jene „Produkte“ konsumieren, die „ExpertInnen“ in diesem Lebensabschnitt für angemessen halten. Damit werden sie ruhig gestellt und sollen auch noch dankbar sein dafür. Dadurch werden alte Menschen meist erst zu „Pflegefällen“ gemacht.
Aber das kann auch schon viel früher passieren. Im Karriereteil(!) des Standard schrieb Karin Bauer am Wochenende über den „Plan B“, den ArbeitnehmerInnen für den Fall einer Kündigung haben sollten um der Angst vor der Kündigung zu begegnen. Dieser großartige Plan lautet „sich auf den Erhalt der Gesundheit zu konzentrieren, Sport und Entspannung bewusst zu üben.“ Im Grunde heißt das das Gleiche: hast du keine Erwerbsarbeit, so bleibt dir nichts, als deinen Körper funktionsfähig zu halten, sozusagen als Selbstzweck und am besten mit vorgefertigten Standardangeboten. Job oder Sport und Entspannung als Alternative, sonst gibt es anscheinend nichts zu tun in dieser Welt und auch nichts, was unserem Leben Sinn geben könnte. Ob das ausreicht, die Angst vor der Kündigung zu nehmen?
Keine Idee davon, dass mensch in einem solchen Fall mehr Zeit hätte, sich um Kinder oder Eltern zu kümmern, Beziehungen zu pflegen, zu Lesen, zu Malen, zu Musizieren, zu Reisen, für Gespräche, für gesellschaftliches Engagement, für Beteiligung am Leben in der Nachbarschaft – all des nebenbei, gehört auch zum Erhalt der Gesundheit, so weiß es zumindest die WHO, Sport und Entspannung sind hier nur zwei unter vielen anderen Faktoren. Das gilt für Arbeitslose ebenso wie für alte Menschen. Es ist genau das, was das Leben lebenswert macht, das solche Konzepte der Lebensgestaltung ausblenden. Nichts Spontanes und Unerwartetes, nichts „Sinnloses“ und Verrücktes, nichts Kreatives und möglichst nichts mit unsicherem Ausgang. Kein Wunder, dass Kinder und Jugendliche Gefahr und Risiko suchen, gewalttätig oder hyperaktiv werden; kein Wunder, dass Arbeitslose depressiv und alte Menschen dement werden; dass Suchtverhalten ein zunehmendes Problem wird, weil es oft die einzige Möglichkeit ist, wie Menschen noch Empfindungen erzeugen können. Das sind Symptome, die entstehen, wenn Menschen von ihrem Leben abgeschnitten werden. Und dieses „Uns-selbst-vom-Leben-Abschneiden“ ist, denke ich, eine wesentliche Ursache, für all die Probleme, die wir heute haben.
A propos: ich habe kürzlich eine nette Definition von „verrückt“ gehört. Damit wir Dinge neu arrangieren können, müssen wir sie ver-rücken. Damit wir selbst eine neue Perspektive auf uns und die Welt einnehmen können, müssen wir uns ver-rücken. Mensch muss also „ver-rückt“ sein, um etwas verändern zu können! Also dann: für mehr Verrücktheit in der Welt :)!