Nach langer Pause geht’s wieder weiter, hier der dritte Teil der Diskussion zwischen Hilary Wainwright und John Holloway, die in Red Pepper veröffentlicht wurde. Teil I gibt es hier, Teil II hier.

Liebe Hilary,

danke für deinen Brief, der direkt zwei zentrale Punkte anspricht: den Staat und Institutionen im Allgemeinen. Den Staat zuerst: Wie du sagst, stimmen wir grundsätzlich überein, dass staatliche Institutionen generell „Wirtschaft und Politik voneinander trennen, die Politik von den betroffenen Menschen, die Menschen voneinander und von ihrem sozialen Umfeld.“

Dann sagst du: „Wenn wir aber die Analyse über den Doppelcharakter der Bürgerrechte durchführen, dann sehen wir, dass deine Beschreibung nur eine Dimension umfasst, wenn auch die dominantere. Eine solche Analyse würde aber auch bedeuten, dass wir die fragmentierte, abstrakte Natur der Bürgerrechte, die den parlamentarischen Institutionen zugrunde liegt, dem Potential der Bürger als soziale Subjekte gegenüber stellen müssten.“ Hier stimme ich dir zu und auch wieder nicht.

Der Staat ist ganz allgemein eine Organisationsform, die über Jahrhunderte entstanden ist um soziale Unruhen auszuschließen, zu spalten und umzuformulieren, um sie mit der Reproduktion des Kapitalismus vereinbar zu machen. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens gibt es sicherlich viele, die in die falsche Richtung gehen, die diese ererbten Formen durchbrechen und andere Formen des Verhaltens und der Organisation entwickeln. Viele von  uns, die Lehrer in staatlichen Organisationen sind z.B., versuchen das zu tun: Wir kämpfen in-gegen-und-über-den-Staat-hinaus, indem wir versuchen eine Welt jenseits des Kapitalismus zu eröffnen. Für mich gehört das zur Bewegung des „Tuns“ gegen abstrakte, entfremdete Arbeit. In deinen Worten ist das eine Bewegung des „Staatsbürgers als aktivem oder sozialem Subjekt gegen den Staatsbürger als isoliertem Individuum.“

Ich muss gestehen, dass ich mit dieser Formulierung im vorigen Mail ziemlich lange gekämpft habe, vor allem mit der Bedeutung von „citizenship“. Damit sich alle ihre eigene Meinung bilden können und auch zum besseren Verständnis des weiteren Textes hier der Originalwortlaut von Hilary: „We could talk here about subject citizenship or socialised citizenship versus atomistic citizenship.“

Weiter mit Holloway:

Mein Problem mit dieser Formulierung ist, dass das Wort „citizenship“ die Kämpfe an den Staat bindet, der genau die Form sozialer Beziehungen darstellt, mit denen wir zu brechen versuchen – wir müssen über den Staat hinausgehen und daher auch über den Begriff „citizenship“.

Der andauernde Kampf in-gegen-und-über-den-Staat-hinaus ist ein zentrales Element in unser aller Leben (auch wenn wir nicht vom Staat angestellt sind, kommen wir ständig in Kontakt mit ihm). Daher sehe ich den Staat als eine gigantische Saugglocke. Er saugt uns ständig zurück in die Anpassung an eine Gesellschaft, die von Geld regiert wird. Oder als eine riesiges Fischernetz, dass alle unser Unbehagen wieder einfängt und wieder der Logik des Kapitals unterordnet: durch die Sprache, die verwendet wird, die Ausfüllen von Formularen, die Tausenden Wege, wie er uns Geld gibt, wenn wir nur auf eine bestimmte Art und Weise formulieren, was wir wollen und genauso durch die Ausgabenkürzungen.

Die Kürzung öffentlicher Ausgaben ist nicht gegen den Staat gerichtet, sondern ist fundamental für die Arbeitsweise des Staates: Er lockt uns, indem er uns Ressourcen verspricht und dann heißt es, „tut uns leid, die ökonomische Situation erlaubt es nicht, dass wir euch geben, was wir versprochen haben“. Dann versuchen wir uns selbst zu verteidigen, aber natürlich bedeutet Verteidigung, solange es nicht mehr als das ist, dass wir innerhalb der Logik des Staates bleiben. Der Staat ist eine Bewegung von Ausdehnung und Kontraktion: Den Staat gegen die Sparmaßnahmen zu verteidigen macht überhaupt keinen Sinn.

Ich unterscheide hier zwischen einem situationsabhängigen Kontakt mit dem Staat, wie z.B. als Staatsangestellte oder EmpfängerInnen von Sozialleistungen, wo wir versuchen, über den Staat hinaus zu gelangen, weil wir bereits drinnen sind, und einem von uns selbst angestrebten Kontakt mit dem Staat, wo wir versuchen hineinzukommen (sagen wir, als gewählte VertreterInnen) und ihn in unsere Richtung zu wenden.

Im ersten Fall ist der Kampf in-gegen-und-über-den-Staat-hinaus unvermeidlich, wir sind mitten drin. Im zweiten Fall habe ich das Gefühl, dass die Saugkraft des Staats so groß ist, dass wir nicht in der Lage sein werden, weit in diese Richtung zu gehen, ohne unsere anti-kapitalistische Perspektive aufgeben zu müssen. Es mag manchmal Sinn machen als „hit-and-run“-Aktion, als Versuch, schnell etwas zu bekommen und dann schnell wieder zu schauen, wie man hinaus kommt, aber nicht als Langzeitunternehmen, wo bald eine Karriereoption draus wird und jede anti-kapitalistische Perspektive unterdrückt wird. Es ist notwendig, dass wir unsere Bewegung als eine Bewegung des Bruches mit dem Kapitalismus denken und nicht nur als eine Bewegung für Demokratie.

Kurz noch zum zweiten Punkt, der Frage der Institutionen. Du sagst, dass auch du die Bewegung magst, das Fließen, den Tanz, dass wir aber in der Praxis das Rückgrat der Institutionen brauchen. Vielleicht ist es eher so, dass wir jetzt Krüppel sind, die institutionelle Krücken brauchen, aber diese abwerfen müssen, um richtig gehen zu lernen.

Unsere Bewegung ist eine anti-institutionelle Bewegung. Vielleicht müssen wir Institutionen (oder Gewohnheiten) auf diesem Weg schaffen, aber wenn wir diese Institutionen nicht im selben Moment unterlaufen, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie sich ins Gegenteil verkehren. Der Fluss der Rebellion ist in Bewegung und wird von niemandem kontrolliert; wenn wir versuchen Regeln zu entwickeln, die ihn lenken, werden wir sehen, dass die Bewegung selbst die Regeln bricht.

John

Naja, das ist mir dann doch ein wenig zu anarchistisch. Ich glaub eigentlich auch, dass es Institutionen braucht, weil wir uns auch nicht ständig bewegen können. Wenn wir, wie Holloway das sehr überzeugend darlegt, die neue Welt aufbauen müssen während wir gegen die alte kämpfen, dann braucht die auch irgendwelche Regeln und Strukturen. Die Gefahr der Vereinnahmung besteht da natürlich immer, aber nur deswegen immer auf der Flucht zu sein, ist auch nicht meine Vorstellung vom Guten Leben ;-).