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Revolution in der holländischen Pflegelandschaft

Vor langer Zeit schon habe ich über meine Erfahrungen in der der mobilen Altenbetreuung gebloggt. Ich arbeite schon lange nicht mehr in diesem Bereich. Aber als ich im vorigen Sommer zum ersten Mal von der holländischen Organisation Buurtzorg las, war ich sofort begeistert (hier die ältere Webseite von Buurtzorg in Holland, aber die gibt es anscheinend nur mehr auf niederländisch, weil die Organisation inzwischen echt international geworden ist). Mobile Altenbetreuung selbst organisiert – und ich wusste aus Erfahrung, es geht! Ich bin im August extra zum Forum Alpbach gefahren, um Jos de Blok, den Gründer der Organisation, kennen zu lernen. Für den Schwerpunkt zum Thema Care in der Märzausgabe der contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation habe ich diesen Beitrag geschrieben:

Buurtzorg

2007 hatte Jos de Blok, Krankenpfleger mit Managementerfahrung, endgültig genug von den Arbeitsbedingungen in der Pflege. Mit vier Kolleginnen gründetet er in der Gemeinde Enschede Buurtzorg, auf Deutsch Nachbarschaftspflege, ohne Chef, ohne bürokratischen Überbau. Das ist bis heute, mit mehr als 10.000 MitarbeiterInnen, so geblieben.

Das zentrale Motto des neuen Ansatzes war »Menschlichkeit statt Bürokratie«. Sowohl die Bedürfnisse der Pflegenden als auch die der Gepflegten stehen im Mittelpunkt. Pflegende können ihr Wissen und ihre Kompetenzen unmittelbar einbringen, pflegebedürftige Menschen werden so betreut, dass sie möglichst selbständig leben können. Das bedeutet, dass am Beginn viel Zeit mit Gesprächen verbracht wird, um Informationen über die Lebensumstände, das physische Wohnumfeld und soziale Kontakte zu bekommen. Die nächsten Schritte sind die Gestaltung der Wohnung und der Aufbau eines sozialen Netzwerkes, so dass die Buurtzorg-MitarbeiterInnen immer weniger Zeit für die Pflege aufwenden müssen, obwohl die Lebensqualität der betreuten Personen steigt. Zu den PatientInnen kommen maximal zwei Pflegekräfte für alle Aktivitäten, so das ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann. Auch die Arbeitsbedingungen für die Pflegenden bessern sich, weil sie ihre Arbeit autonom gestalten und sich die Arbeitszeit nach ihren Bedürfnissen einteilen können.

Das sprach sich schnell herum und immer mehr Menschen wollten bei Buurtzorg mitarbeiten oder von Buurtzorg gepflegt werden. Jos setzte aber eine klare Grenze für die Größe seines Teams, wenn neue Menschen dazu kommen wollen, müssen sie sich Gleichgesinnte suchen. Ab vier Personen kann ein neues Team entstehen. Die Obergrenze sind 10 – 12 Personen, die ein klar umrissenes Einzugsgebiet betreuen, etwa 5000 Einwohner pro Team, damit auch wirklich stadtteil- oder gemeindeumfassende externe Kooperationen möglich sind. Die Teams verfügen über ihr eigenes Budget und arbeiten vollkommen autonom in Bezug auf Planung, Koordination oder Fortbildungen. Ihre Erfahrungen stellen sie über Buurtzorg Web, eine Online-Plattform in der Art eines sozialen Netzwerkes, allen anderen zur Verfügung. Dadurch können Probleme schnell bearbeitet und erworbenes Wissen geteilt werden. Jos hat, so meinen viele, Pflegefachkräften ihren Beruf wieder zurückgegeben.

Patienten und deren Angehörige können ebenfalls Teile der Online-Plattform benutzten und so direkt Rückmeldungen geben oder Fragen stellen. Es gibt regelmäßige Treffen mit gepflegten Personen und deren Angehörigen, um Kontakt zu pflegen und Rückmeldungen zur Pflegequalität zu bekommen. Buurtzorg wurde zweimal hintereinander zum beliebtesten Arbeitgeber der Niederlande gewählt und bekam die beste Pflegequalität unter 307 Mitbewerbern attestiert. Und es stellte sich heraus, dass diese Art der Pflege langfristig für die Krankenkassen und damit für die Gesellschaft sogar billiger ist als die herkömmliche Struktur. Deshalb hat es Jos nun endlich geschafft, dass er mit den Kassen auch das abrechnen kann, was wirklich geleistet wird und nicht nach dem herkömmlichen Produktschema.

Weil es kein teuer bezahltes Management gibt, können die PflegerInnen bei Buurtzorg mehr bezahlt bekommen und es bleibt Zeit und Geld für verschiedene Aktivitäten, je nach Lust und Bedarf – das reicht von Ausflügen bis hin zu Rollatorrennen, die von Buurtzorg ausgehend inzwischen in vielen Orten organisiert werden. Obwohl die Teams über ganz Holland verteilt sind, fühlen sie sich über gemeinsame Werte und eine gemeinsame Kultur verbunden. Einmal im Jahr gibt es eine mehrtägige Konferenz an der mehrere Tausend MitarbeiterInnen teilnehmen und sich so auch persönlich kennen lernen können.

2017 arbeiteten über 10.000 Menschen für Buurtzorg in knapp 1000 Teams, die Organisation deckte 60% der mobilen Krankenpflege in den Niederlanden ab. Mit 50 Personen, hauptsächlich für die Abrechnungen mit Krankenkassen und Gemeinden, ist auch schon die ganze Bürokratie abgedeckt. Es gibt keine Manager, Geschäftsführer, Personalchefs oder Ähnliches, nur regionale Coaches, 25 an der Zahl, die jedoch keine Entscheidungsfunktion haben. Sie organisieren Trainings für neu entstehende Teams, um ihnen Besprechungs- und Entscheidungsfindungsmethoden zu vermitteln und begleiten ansonsten bei Bedarf auf Anfrage. Jos de Blok ist zwar formal der »CEO« (die heute übliche Bezeichung für einen Vorstandsvorsitzenden oder Generaldirektor), es gebe aber, so sagt er, nicht wirklich Arbeit für ihn. Und so reist er rund um die Welt zu Vorträgen über sein Modell, für das es nicht nur in Europa Interesse gibt, sondern auch in China, Japan, Australien und den USA. In Holland hat sich Buurtzorg inzwischen weitere Arbeitsbereiche mit Kindern und Familien erschlossen – natürlich mit der gleichen, selbstorganisierten Struktur.

In Deutschland gibt es ein Netzwerk, das nach ähnlichen Prinzipien arbeitet: Pflege auf Augenhöhe. Wer die anderen Beiträge des Schwerpunkts lesen will, kann sich ein Schnupperabo der contraste bestellen oder gleich ein ganz normales :).

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