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Kirchentag und Protestkultur

Nun hab ich hier länger nichts geschrieben, auch deshalb, weil – neben meinen Reisen – auch in Graz so viel passiert, dass zum bloggen zu wenig Zeit bleibt. Mehr dazu hoffentlich dann doch demnächst hier. Aber nun gibt es davor noch Wichtigeres, und das deshalb, weil, ja: ich liebe Hamburg :)! Darum musste ich nicht lange überlegen, als die Anfrage von der Organisation des Deutschen Evangelischen Kirchentags kam, ob ich an einer Diskussionsveranstaltung zu Commons teilnehmen würde. Wir können zwar kein Honorar bezahlen, hieß es da, aber wir übernehmen die Fahrtkosten und es gibt eine Dauerkarte für den Kirchentag und ein Karte für die öffentlichen Verkehrsmittel (inklusive Hafenfähren!) für fünf Tage. Natürlich sagte ich zu. Fünf Tage Hamburg scheinen mir ein mehr als angemessener Ausgleich für eine Stunde Diskussion über ein Thema, das mich ohnehin interessiert, mit anderen Menschen, die das auch interessiert, noch dazu, wo ich kaum etwas vorbereiten musste dafür. Und weil eine gute Freundin von mir lange in Hamburg gelebt hat, gab es auch noch freundschaftliche Verbindungen, die mir einen Schlafplatz sicherten. Also bin ich da. Und also muss ich drüber schreiben. Denn in Hamburg zu sein, ohne darüber zu erzählen, geht nicht.

Und erst ging ich auch mal wirklich zum Kirchentag: zigtausende Menschen bewegen sich durch die Stadt und besonders im Bereich zwischen Universität und Messegelände, wo der Großteil der Veranstaltungen stattfindet. Die Vielfalt des Dargebotenen ist beeindruckend und geht über Religion und Glauben weit hinaus, umfasst alle gesellschaftlich im Moment relevanten Themen und ebenso breit gestreut ist auch die Palette der Ausstellenden in den Hallen. Stände aus vielen Ländern, aus den Bereichen Soziales, Energie, Klima, Ernährung, Demokratie und und und – keineswegs nur kirchliche Initiativen. Angebote für Kinder, Jugendliche, Alte, Menschen mit Behinderung, usw., usw. Trotz der vielen Menschen ist die Stimmung heiter und gelassen, Manchmal bleibt man stehen, um sich zu unterhalten, manchmal um der Musik zuzuhören, manchmal um selber mitzusingen – „Gott gab uns Hände damit wir handeln, er gab uns Füße, dass wir fest stehen. Er will mit uns diese Erde verwandeln, wir können neu ins Leben gehen“ – Ja, eh, warum fangen wir nicht endlich an?

Dazwischen Stände mit Speis und Trank, Menschen, die zwischen den Hallen auf dem Boden beisammen sitzen, essen, plaudern, singen. Und dann sehe ich doch tatsächlich Benni Bärmanns Kapitalismusplakat an der Wand kleben. Des Rätsels Lösung: es handelt sich um den Stand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Alles sehr gemütlich also.

Schwieriger wird es, wenn mensch den Anspruch hat, auch an inhaltlichen Veranstaltungen nach eigenem Interesse teilzunehmen. Margot Käßmann? Dorothee Sölle? Dietrich Bonhoeffer? Schon eine halbe Stunde vor Beginn sind die Hallen wegen Überfüllung geschlossen. Rebekka – eine Frau greift in die Männerwelt ein? Die Schlange reicht auch hier schon bis auf den Gang. Bibliodrama? Wer mitmachen will, muss sich mindestens eineinhalb Stunden davor um die (kostenlosen) Karten anstellen. Gospelkonzert in der Kirche St. Michaelis – da werd ich doch reinkommen! Das ist hier auch wirklich nicht das Problem, nur hängt dort ein Plakat, das mir sagt, dass es statt des Gospelkonzerts eine Probe des Kantatenchores gibt. Nun reicht’s mir. Tschüss Kirchentag – Hamburg kann noch viel mehr.

Und zum Glück gibt es gleich unter der Kirche einen schönen Park und das Wetter passt dazu. Eigentlich passt das Wetter fast immer, wenn ich in Norddeutschland bin, was die meisten Leute die dort wohnen kaum glauben können. Ich setze mich in die Wiese, gehe noch einmal meinen Input für heute Abend durch. Dann beginnt doch tatsächlich ein Jugendchor im Park Gospel zu singen – so geht’s also auch :). Und dann gehe ich runter zum Hafen, der auf mich immer wieder eine große Anziehungskraft ausübt. Ich weiß, ich wiederhole mich – aber da das letzte Loblied auf Hamburg schon drei Jahre her ist, erlaube ich mir das.

Hamburg, das ist eine Vielfalt an Lebensstilen, Kultur und Architektur, die mich jedes Mal von Neuem fasziniert. Wo sonst gibt es so gewagte Mischungen von Baustilen auf so engem Raum? Kostprobe gefällig? Bitte sehr:

Das viele Wasser – von der Elbe über die Binnen- bis zur Außenalster, wo man sich gar nicht vorstellen kann, im Stadtgebiet zu sein; das viele Grün, der wunderschöne Park Planten un Bloomen, durch den man gehen muss, um von einem Veranstaltungsort des Kirchentages zum anderen zu kommen; die Vergangenheit als Hansestadt, die sich in der Speicherstadt spiegelt und die Gegenwart, die sich in der neuen Hafencity ebenso wie in der Protestkultur rund um St. Pauli ausdrückt. In der Hafencity wurde der Bau der Elbphilharmonie seit meinem letzten Besuch zu einer unendlichen Geschichte der Bauskandale – wie so viele Großbauten in so vielen Städten. Die Protestkultur lebt – unter anderem durch solche Vorkommnisse gestärkt – und findet gerade jetzt in der Protestkulturwoche ihren Ausdruck, die ich mindestens ebenso anziehend finde wie den Kirchentag und die sich als wesentlich leichter zugänglich erweist. Am Donnerstag gab es eine Veranstaltung mit Silke Helfrich und Niels Boeing im Kultwerk West. Und Niels hat mir erzählt, wo es interessante Projekte und Veranstaltungen gibt.

Ich erforsche das Karo-Viertel mit dem Gemeinschaftsgarten Keimzelle,

dem Fabulous Lab und mit der „Kiez Couture“. Am Wahlkampf-Infostand der SPD sagt die SPD Stadträtin (oder wie immer das dort heißt) etwas Erstaunliches: „Wir“ sagt sie – und fügt dann doch hinzu „ich war ja damals noch nicht dabei“ (was man ihr auf Grund ihres Alters gerne glaubt), also „wir, der Stadtsenat, wollte ja hier alles plattmachen in den 50er Jahren. Alles was irgendwie barock oder nach Jugendstil aussah, sollte weg und der neuen Sachlichkeit Platz machen. Aber zum Glück haben sich die Menschen erfolgreich gewehrt. Heute sind wir stolz darauf. Wir haben das alles hier saniert, alles ist im Eigentum der Stadt geblieben und die Leute wohnen hier noch zu Mietpreisen von 4.50 oder 5 €.“ Wenn diese Einsicht nur bei mehr StadtpolitikerInnen um sich greifen würde!

Die Menschen freilich, die sich am nächten Tag in der Nähe treffen, um die Zeichen der Gentrifizierung in ihrer Wohngegend zu kartieren, sind hier ein wenig anderer Meinung. Die alte Rindermarkthalle hätten sie gerne anders genutzt als als Einkaufszentrum, im Karo-Viertel gibt es keinen Bäcker mehr und auch sonst gäbe es zu viele Versuche, die Stadt „aufzuwerten“, also Investoren anzulocken.

Und schließlich gehe ich zum zweiten Gemeinschaftsgarten in St. Pauli, dem Gartendeck.

Seit dem Kampnagel-Sommerfestival 2011 gedeiht hier jede Menge Gemüse in Plastikkisten, auch ein Bienenvolk lebt da und Gartenlauben macht man hier aus Stangenbohnen.

Ich helfe dabei, die Erde in den Kisten aufzufüllen, damit diese bepflanzt werden können. Dann treffe ich Tanja und Kai, die mir vom FabLab erzählen. Ich erfahre, dass es immer dort seinen Platz findet, wo ein Stadtteil vor weiterem Ausverkauf und „Verwertung“ bewahrt werden soll. Das war vor 3 Jahren das Bernhard Nocht Quartier, wo die Initiative noBNQ den Verkauf eines ganzen Häuserblocks an einen Investor verhindern konnte (auch darüber hab ich vor drei Jahren geschrieben ;)), das ist derzeit das Centro Sociale in der Sternstraße, im Karo-Viertel. Sie erzählen auch, dass im FabLab das Lastenrad gebaut wurde, das hier im Gartendeck steht und auch an andere Projekte verliehen wird. Ich lerne viel über die internationale Vernetzung der FabLab-Bewegung – um darüber mehr zu schreiben, braucht es aber noch einige Recherchen. Während unseres Gesprächs wird im Kanonenofen Chili sin carne gekocht und schließlich gemeinsam verspeist. Das gemeinsame Kochen und Essen ist fester Bestandteil des Konzepts des Gartendecks.

Hamburg: Hafen, Blumen, Hoch- und Protestkultur und Commons wohin man schaut :)! Also dann, bis zum nächsten Mal!

Und hier alle Fotos.