Letze Woche war in Ö1 ein interessantes Radio-Kolleg über die Auswirkungen der Olympischen Spiele auf das Londoner East End:
Versprochen wurde, dass die Investitionen in Milliardenhöhe der lokalen Bevölkerung zigtausende Jobs, günstige Wohnungen und neue Perspektiven bringen. Doch diese Hoffnungen sind bei vielen erloschen, die Wohnungspreise überhitzt, lokale Geschäfte wurden abgesiedelt oder sind von selbst dem Druck gewichen.
Die Darstellung in den Medien zeigt Industriebrachen, verfallene Häuser, angeblich habe dort niemand gewohnt, „Niemandsland“ also, das nach den Spielen zu einem blühenden Stadtteil mit Sozialwohnungen werden und neue Jobchancen bieten würde – so die Versprechungen. Tatsächlich existierten dort Sozialwohnungen, Schrebergärten und kleine Reparaturbetriebe und Läden, die in dieser billigen Gegend ihren Mann oder ihre Frau ernährten, weil auch die Kundschaft aus der Nachbarschaft kam, entsprechende soziale Netzwerke bestanden. Vor nicht allzu langer Zeit arbeiteten in den Hafendocks noch Tausende Menschen. Ebenso viele wurden nun umgesiedelt, Gärten enteignet, um die Olympiastadt aus dem Boden zu stampfen. Die Kleinunternehmen verloren ihre Kundschaft. Das alles wird in den Medien verschwiegen, ist jedoch nachzulesen im Blog des Counter Olympics Network und auf der Webseite Games Monitor.
Das kommt uns bekannt vor: „Niemandsland“ wird an Immobilienentwickler, Energieunternehmen oder sonstige Investoren verkauft, wovon angeblich „alle“ profitieren sollten. Dass dieses Niemandsland die Lebensgrundlage für viele Menschen ist, davon redet niemand. Das kennen wir vom Landverkauf im großen Stil, vor allem in Afrika, dem sogenannten Landgrabbing. Ähnliches wird aus Istanbul berichtet. Dass das auch mitten in einer westlichen Großstadt passieren kann, überrascht doch ein wenig. Natürlich, einige Wenige können von der Aufwertung des Stadtteils profitieren, für die meisten bedeutet es eine Zerstörung ihrer Existenz. Denn nicht nur, dass die neuen Wohnungen, die ihnen zugewiesen wurden, teurer sind als die alten, die Einbindung in ihre sozialen Netzwerke, die sie mit vielen kostenlosen Ressourcen versorgten, fällt weg. Die kleinen Betriebe sind dem Wettbewerb im freien Markt nicht gewachsen.
Der betroffene Stadtteil umfasst auch sensible Naturflächen und Sumpfland, die nicht nur eine „grüne Lunge“ für die Stadt und ein Rückzugsgebiet für bedrohte Arten darstellen, sondern auch eine lange Tradition als Commons haben:
The Hackney, Walthamstow and Leyton Marshes are former Lammas Lands. This means meadows upon which parishioners had the common right to graze cattle from Lammas Day (the Celtic Midsummer Day, August 1) following the hay harvest, until Lady Day (old New Year’s Day, March 25). These rights date back to before the Norman Conquest, and possibly pre date the Roman era.
Die Leyton Marshes sollen zu einem Basketballfeld werden. Die Bürgerinitiativen dagegen berufen sich auf alte Rechte. Das „New Lammas Lands Defence Committee“ berichtet: Nachdem das Land seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kaum für Weidezwecke genutzt worden war, wurde es an eine religiöse Gemeinschaft verkauft, die es der Bevölkerung als öffentlicher Erholungsraum zur Verfügung stellte, später wurde es von der öffentlichen Hand übernommen. Noch 1965 wurde dieses Gebiet als „common land“ gesetzlich registriert. Entsprechend einem Gesetz aus 1981 müsste die Olympia-Betreibergesellschaft Ersatz dafür zur Verfügung stellen. In einem speziell für die Olympischen Spiele gemachten Gesetz wurden diese Verpflichtung aufgehoben. Nun wird befürchtet, dass das zum Präzedenzfall werden könnte und „common land“ nicht mehr vor Privatisierung und Verwertung geschützt wäre. Daher bestehen Bürgeinitiativen und das Lammas Lands Defence Committee darauf, dass Ersatz zur Verfügung gestellt werden muss. Ein schönes Beispiel dafür, dass die Idee der Commons bei vielen Menschen in England noch lebendig ist.
Manche pflegen auch noch die alte Tradition, ihre „Commons“ einmal im Jahr zu umschreiten, um die Grenzsteine zu kontrollieren und ihren Nutzungsanspruch zu bewahren, berichtete Ina Zwerger im Radiokolleg.
Was hier im Londoner East End passiert ist ein Musterbeispiel dafür, dass „ursprüngliche Akkumulation“ (wie es Marx bezeichnete) oder „Akkumulation durch Enteignung“ (David Harvey) eine Dauererscheinung im Kapitalismus ist. Der Kapitalismus ist als System aus sich selbst heraus nicht überlebensfähig, er braucht immer Bereiche außerhalb seiner selbst, die ihn mit kostenlosen Ressourcen (natürlichen Rohstoffen, Arbeitskraft, Wissen) versorgen. Und – weil er zum Wachstum gezwungen ist – muss er immer mehr Bereiche seiner Logik unterwerfen. Das funktioniert einige Zeit lang dadurch, dass er sich in neue Regionen ausbreitet oder neue Gesellschaftssektoren ins Marktsystem integriert werden. Aber es kann auf Dauer nur funktionieren, weil auch immer wieder Bereiche aus dem System ausgeschlossen werden.
Das Londoner East End war zur Hochzeit des Industriekapitalismus ein wichtiger Hafen und eine prosperierende Industriezone. Durch Deindustrialisierung verlor es an Bedeutung und wurde schließlich zu einem sozialen Problembezirk. Solche marginalisierten Bereiche bieten aber immer noch wichtige Ressourcen für die Menschen, die im Zuge dieser Umstrukturierungen mit „entsorgt“ werden und andere, die – aus welchen Gründen immer – den sozialen Aufstieg nicht geschafft haben. In solchen Zonen an der kapitalistischen Peripherie (die durchaus nicht immer der geografischen Peripherie entsprechen muss) entwickeln sich soziale Praktiken, die den Menschen ein Überleben zwar nicht jenseits von Lohnarbeit und Markt, aber doch in einem gewissen Ausmaß unabhängig davon sichern. Die öffentliche Wahrnehmung sieht nur die vordergündige Armut, ist jedoch blind für die informelle, manchmal auch kriminelle, oft genug aber auch solidarische Ökonomie dahinter. Der Immobilienboom ausgelöst durch die Olympischen Spiele holt nun den Stadtteil wieder in die ökonomische Verwertung zurück, was bedingt, dass die dort existierende Subkultur verdrängt werden muss. Man kann den Menschen zwar Wohnungen als Ersatz geben, die dort bestehenden lebensfördernen Strukturen jedoch werden zerstört. Egal ob irgendwo in Afrika oder mitten in einem kapitalistischen Zentrum.