Close

Warum „Gemeinwohl“ und ein Gutes Leben für alle nicht zusammengehen

Individuum gegen Gesellschaft

Der Rückgriff auf das Gemeinwohl als Maß oder Kriterium für eine wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung behält die Sichtweise bei, die auch dem liberal-ökonomischen Weltbild zugrunde liegt: dass die Interessen der Individuen grundsätzlich in Konkurrenz zueinander stehen, das heißt, dass ich

  • bei der Befriedigung meiner Bedürfnisse automatisch Anderen oder der Natur schade und
  • dass zudem oder infolgedessen grundsätzlich individuelle Interessen den Interessen einer als außerhalb der Individuen und ihnen gegenüberstehend angenommenen Gesellschaft oder Gemeinschaft entgegenstehen.
  • Dass es also notwendig ist, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, wenn es allen gut gehen soll.

Adam Smith meinte, diese Gegensätze könnten durch die Etablierung eines freien Marktes aufgehoben werden, dessen unsichtbare Hand bewirken würde, dass die Verfolgung der Einzelinteressen aller, gleichzeitig dem Interesse der Gemeinschaft dienen würde. Daraus resultierte die Notwendigkeit, individuelle Freiheit abzusichern.

Viele KritikerInnen des Kapitalismus und vor allem des Neoliberalismus meinen nun, da sich das nicht bewahrheitet habe, müsse man den umgekehrten Weg gehen und die Interessen der Gemeinschaft gegen die der Individuen schützen. Die Individuen sollen durch moralische Appelle und strikte gesetzliche Regelungen, durch Erziehungsmaßnahmen, usw. dazu gebracht werden, eben NICHT ihre Einzelinteressen zu verfolgen, sondern der Gemeinschaft zu dienen. Diese Ziele werden nach wie vor als einander widersprechend wahrgenommen. Dem Gemeinwohl zu dienen verlangt dann, sich selbst zurückzunehmen, die eigenen Interessen hintanzustellen, sich in der Erfüllung seiner Bedürfnisse einzuschränken. Daher sind eine strenge Regulierung und ein autoritärer Staat – oder eine ebenso autoritär organisierte Zivilgesellschaft – notwendig, um den angestrebten Zustand der Gemeinwohlorientierung aufrecht zu erhalten.

Die Kritik, das Konzept der Gemeinwohlökonomie sei noch zu sehr betriebswirtschaftlich orientiert und entwicklungsbedürftig, greift also zu kurz, es hat einen grundsätzlich defizitären Ausgangspunkt.

Die Illusion des „Überganges“

Manchmal wird in einem falsch verstandenen Materialismus argumentiert, diese Regelungen und Umerziehungsmaßnahmen wären nur für eine „Übergangszeit“ notwendig, wenn erst der paradiesische Zustand der Gemeinwohlökonomie erreicht sei, dann würden die Menschen von sich aus zu diesen Einschränkungen zugunsten des höher eingeschätzten Gemeinwohls bereit sein. Ich möchte in dem Zusammenhang daran erinnern, dass diese Idee der Übergangszeit, in der disziplinierende Maßnahmen notwendig wären, auch im Kommunistischen Manifest vorkommt und auch Lenin hat den Staat als Gewaltinstitution mit der Notwendigkeit in einem befristeten Zeitraum des Überganges legitimiert, danach würde dieser von selbst absterben, was – wie wir inzwischen wissen – auch nicht geschehen ist. Dabei wird Zweierlei übersehen:

  • Erstens, dass die auf Dauer angelegte Forderung nach Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse grundsätzlich einem emanzipatorischen Ansatz widerspricht, auch wenn – oder vielmehr gerade weil – Menschen so konditioniert werden sollen, dass sie das als ihren eigenen Wunsch empfinden. Das ist im Grunde das Wesen jeder Hegemonie, so hat sich auch der Kapitalismus durchgesetzt und das ist auch das wichtigste Erziehungsziel in jeder Diktatur und steht selbstbestimmtem Lernen und auch der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten entgegen.
  • Und zweitens, dass durch die bloße Existenz disziplinierender, autoritärer Maßnahmen – egal wie gut gemeint ihr Ziel auch ist – sich Widerstand entwickeln wird, was dann wieder mehr Disziplinierung notwendig macht und einen Teufelskreis in Gang setzt, der physische Gewalt nicht ausschließt.

Überhaupt glaube ich, dass es, egal welche gesellschaftliche Vision einem vorschwebt, nie ein kapitalistisches und autoritäres „Vorher“ und ein solidarisches, hierarchiefreies und harmonisches „Nachher“ mit einer gewissen Übergangzeit dazwischen geben wird (das gilt auch für eine commonsbasierte Gesellschaft), sondern dass Freiheit, Autonomie und Solidarität Dinge sind, die immer wieder hergestellt werden müssen durch soziale Praxis, die in jedem Fall konfliktgeladen sein wird und im Notfall auch durch soziale Kämpfe und gegen den Staat, dass aber Wohlstand für alle und die Bewahrung natürlicher Ressourcen nur unter solchen Bedingungen möglich sind, wir also diese Mühe auf uns nehmen müssen und sie nicht an einen starken Staat delegieren können.

Freiheit ist eine Praxis. Die Freiheit des Menschen kann nie durch die Institutionen und Gesetze sicher gestellt werden, die dafür gedacht sind. Das ist der Grund, warum fast alle diese Gesetze und Institutionen in ihr Gegenteil verkehrt werden können. Nicht weil sie von sich aus mehrdeutig sind, sondern einfach, weil ‚Freiheit‘ etwas ist, das ausgeübt werden muss. Sie kann nie den Strukturen oder Dingen inherent sein, die ihre Ausübung garantieren sollen. (Michel Foucault, meine Übersetzung)

Das ist z.B. mit dem freien Markt so geschehen: etabliert zum Zweck, die Freiheit der Individuen zu ermöglichen, beschränkt er sie dadurch, dass er sie auf die Wahlfreiheit auf dem Markt reduziert und je mehr Regeln es gibt, um den freien Markt zu schützen, desto weniger Freiheiten haben wir. Etwas Ähnliches ist in Bezug auf Solidarität mit den Versicherungssystemen passiert, die ja zu deren institutioneller Absicherung geschaffen wurden und nun zu profitorientierten Unternehmen geworden sind, die Solidarität untergraben. Und das kann mit allen Institutionen und Regelungen passieren, auch mit Commons, aber die Gefahr ist sicher größer, wenn sie schon von Beginn an disziplinierend und autoritär sind. Daher gilt es den Anfängen zu wehren, denn die Beschränkung auf eine Übergangszeit halte ich für illusorisch.

Die Idee einer solidarischen Gesellschaft

Die Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft hingegen geht davon aus, dass Gesellschaft nichts ist, das den Individuen gegenübersteht, sondern dass Gesellschaft und Individualität im gleichen Prozess entstehen und immer wieder reproduziert werden, in dem wir die Dinge herstellen, die wir zum Leben brauchen und dass auch das Verhältnis zur Natur in diesen sozialen Verhältnissen begründet ist. Die Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft sind also nicht voneinander zu trennen. Es geht vielmehr darum, die Reproduktion der Gesellschaft so zu organisieren, dass die Fülle der natürlichen Ressourcen, der daraus von Menschen produzierten Güter und die Fülle kultureller und sozialer Ressourcen allen zugänglich ist, damit alle ihre Bedürfnisse befriedigen und sich bestmöglich entfalten können. Was mir nützt, nützt in einem solchen Arrangement auch den Anderen und der Natur, eine dauerhafte Einschränkung der eigenen Bedürfnisse und Zurückstellung der eigenen Interessen ist dann nicht mehr notwendig.

Wie anders sollte so etwas wie ein „Gemeinwohl“ zustande kommen, als durch die bestmögliche Befriedigung der Bedürfnisse der Einzelnen und die bestmöglichen Entfaltungsmöglichkeiten für alle und die bestmögliche Sorge um die natürliche Umwelt? Wenn es so zustande kommt aber, dann braucht es keinen speziellen Schutz vor den Eigeninteressen der Individuen mehr.

Dass solche Arrangements auch Regelungen und Institutionen brauchen, ist klar. Wie solche Regelungen und Institutionen aussehen können, hat Elinor Ostrom in empirischen Untersuchungen herausgefunden, obwohl sie von liberalen Wirtschaftstheorien und vom Bild des homo oeconomicus ausging. Sie hat gezeigt, dass es möglich ist, dass Menschen solche Regelungen entwickeln können und das keine „linke Spinnerei“ ist, dass es aber kein Modell gibt, das auf alle passt, sondern die Regeln so verschieden sind, wie die Ressourcen auf die sie sich beziehen und die natürlichen und kulturellen Rahmenbedingungen.

Auch in solchen Arrangements gibt es „Strafen“ – es handelt sich um Sanktionen im juristischen Sinn, im Gegensatz zu Strafen als negativen Anreiz einer behaviouristischen Psychologie. Und es handelt sich nicht um Ge- und Verbote von einer Autorität, sondern um jeweils spezifisch der Situation angepasste Regelungen durch die Beteiligten selbst. Was von jedem Mitglied der Gemeinschaft verlangt wird ist, dass es die selbst gegebenen Regeln einhält, die keinerlei moralische Norm erfüllen und auf keinen geteilten Werten basieren müssen.

Also: es geht z.B. darum, dass jemand zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge Wasser aus einer Bewässerungsanlage entnehmen darf. Warum er das macht, aus Altruismus, Verantwortungsbewusstsein oder Eigennutz ist grundsätzlich egal, auch ob sie Republikanerin, Monarchistin oder Anarchistin, Christin oder Muslimin ist. Ostroms Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass sie es deswegen tun, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie ihre Bedürfnisse besser befriedigen können, wenn sie sich dabei mit anderen abstimmen und dass dabei auch das Vertrauen zu den anderen wächst. Je länger solche Arrangements bestehen, desto unwichtiger werden die Elemente der Kontrolle und Sanktionen, sie sind eigentlich nur Krücken für mangelndes Vertrauen. Das heißt die Motivation des Handelns besteht aus einer Kombination aus Eigennutz, Respekt vor den Bedürfnissen anderer, dem Wissen um die Begrenztheit natürlicher Ressourcen und dem Wissen um die Abhängigkeit sowohl von diesen als von den anderen NutzerInnen der Wasserversorgungsanlage.

Das Ziel kann also nicht ein Entweder – Oder sein, entweder individuelle oder kollektive Interessen, entweder Egoismus oder Gemeinwohl, entweder ökologische Nachhaltigkeit oder gesellschaftlicher Wohlstand, sondern ein solidarisches Gesellschaftsmodell muss in der Lage sein, die gesellschaftliche Reproduktion so zu organisieren, muss die verschiedenen Interessen so artikulieren können, dass die Erreichung des einen Zieles nur gleichzeitig mit der Erreichung der anderen möglich ist.

Das ist aber nicht mit den oftmals behaupteten Win-Win-Situationen innerhalb des kapitalistischen Systems  zu verwechseln. Da durch die Marktlogik Interessen hier grundsätzlich zueinander in Konkurrenz gesetzt werden, ist eine Situation, in der der Vorteil der Einen auch der Vorteil des Anderen ist, nicht denkbar und die Behauptung ist immer Teil eines hegemonialen Diskurses. Eine solche Konstellation ist nur in Form einer nicht-marktförmigen Vergesellschaftung möglich.

Siehe dazu auch diesen Beitrag und den Kommentar von Stefan Meretz.

1 thought on “Warum „Gemeinwohl“ und ein Gutes Leben für alle nicht zusammengehen

  1. Liebe Brigitte,

    kannst Du Beispiele nennen wie „Was mir nützt, nützt in einem solchen Arrangement auch den Anderen und der Natur“ zustande kommt und wie ich das den Leuten beibringe. Neue Schulfächer 😉

    Ich kann bei der „Idee einer solidarischen Gesellschaft“ viele Parallelen zudem erkennen, was Du vorher kritisiert hast. Es gibt hie und da Regeln, welche basisdemokratisch beschlossen werden.
    Die Menschen werden diese Regeln wohl auf Basis ihrer Moral und Werte beschließen. Damit kann ich mir das nicht vorstellen: „Was von jedem Mitglied der Gemeinschaft verlangt wird ist, dass es die selbst gegebenen Regeln einhält, die keinerlei moralische Norm erfüllen müssen und auf keinen geteilten Werten basieren“. Wer die Regeln nicht einhält bekommt Strafen. Wo ist der Unterschied zu Geh- und Verboten?
    „Je länger solche Arrangements bestehen, desto unwichtiger werden die Elemente der Kontrolle und Sanktionen“. Klingt ganz nach „Die Illusion des „Überganges““.

    „Wie anders sollte so etwas wie ein „Gemeinwohl“ zustande kommen, als durch die bestmögliche Befriedigung der Bedürfnisse der Einzelnen…“. Bedürfnisse sind nichts statisches. Die Befriedigung aller Bedürfnisse aller lebenden Individuen wäre ein Weg zum „Gemeinwohl“. Der Versuch die Befriedigung der aktuellen Bedürfnisse (z.B.: Fernreisen, Hauspersonal, Macht über andere haben usw) vieler Individuen kann ich mir aber nur zum Ungunsten Anderer vorstellen und kann nicht für alle (und nichteinmal für einen nennenswerten Teil der Menschheit) klappen. Oder?
    Die Individuen könnten sich aber auch selbstermächtigen und ihre Bedürfnisse mehr und mehr selbst bestimmen und nach dem richten was möglich ist (die Natur für alle bereithält), an Stelle danach zu trachten alle aufkommenden, womöglich künstlich von Werbung erzeugten, Bedürfnisse unreflektiert um jeden Preis zu befriedigen. Ich hoffe durch die Beschränkung auf das was Möglich ist, findet sich niemand in seiner Freiheit zu sehr eingeschränkt 😉 Wie diese Art der Selbstermächtigung stattfinden soll, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht.
    Eventuell durch Entwicklungen die von der Gemeinwohlökonomie, einer solidarischen Gesellschaft oder einer Vielzahl von „Commons-Inseln“ gefördert werden. Ich schließe mich Deinem Zitat aus einer Deiner letzten Beiträge an: „Mein Credo ist nach wie vor, dass niemand von uns wissen kann, ob sein oder ihr Weg richtig ist und wir daher eine Vielfalt von alternativen Wirtschaftsformen brauchen.“

Comments are closed.