Ich geb schon zu, so ganz geht das nicht. Aber es kam dem schon sehr nahe, zumindest bei der Sommeruni von Friederike Habermann im Tagungshaus Wernsdorf, südöstlich von Berlin.

Die Sommeruni – zu einer „subjektfundierten Hegemonietheorie“

Das Haus in Wernsdorf ist ein selbstverwaltetes Ferienheim und Tagungshaus und man kann dorthin kommen und gegen eine geringe Bezahlung alles nutzen, aber sich selbst versorgen und auch das Haus in Ordnung halten. Genau der richtige Ort also um nicht nur gemeinsam zu leben sondern auch, wie es Lorenz Glatz es in seiner Rezension von Friederikes Buch „Der homo oeconomicus und das Andere“ ausdrückt, „eine Theorie der menschlichen Handlungsfähigkeit in den Strukturen der Unterdrückung zu entwickeln“. Anders gesagt, sich mit der Frage zu beschäftigen: Können wir innerhalb des Kapitalismus andere Lebensformen, andere Identitäten entwickeln, oder werden wir ganz von diesem System bestimmt? Und die Antwort kann nur lauten, ja – wir können es nicht nur, es ist die einzige Möglichkeit etwas zu verändern, denn wir müssen in der Welt, in der wir leben anfangen, eine neue aufzubauen. Wir haben keine andere.

Die gute Nachricht: wir können es nicht nur, sondern wir tun es schon. Jeden Tag, mit allem was wir tun, verändern wir uns selbst und unsere Umwelt, auch wenn die Grenzen, innerhalb derer wir uns bewegen können, eng sind. Deshalb haben wir mit allem was wir tun, auch die Möglichkeit, der Welt die wir uns wünschen, näher zu kommen. Es kommt also darauf an, was wir tun und wie wir es tun. Und weil wir uns und unsere Umwelt mit diesem Tun verändern, schafft jeder kleine Schritt eine neue Ausgangslage, eröffnet die Möglichkeit für den nächsten. Wege entstehen, indem man sie geht. Und dabei geht es natürlich nicht nur darum, die Hegemonie des kapitalistischen Systems zu überwinden, es sind vielfältige Machtverhältnisse, die unsere Identität und unser Verhalten prägen. Die Fragen von „class, race und gender“ müssen in gleicher Weise einbezogen werden, wenn wir wirklich „alle Verhältnisse umwerfen“ wollen.

„What we do matters“ – mit diesem Satz schließt Friederike ihr Buch. Und die Menschen, die in Wernsdorf zusammengekommen sind, versuchen sich alle auf die eine oder andere Weise darin, neue Lebensformen und widerständige Identitäten zu entwickeln und damit auch die Systemgrenzen ein Stück weit hinauszuschieben. Nur eine Frau hat einen „normalen Job“. Es waren gar nicht so wenige, die sich ganz gut in Hartz IV eingerichtet haben und das selbstbewusst und überzeugt, weil sie dadurch Zeit haben Dinge zu tun, die ihnen wirklich wichtig sind, aber von niemandem bezahlt werden. Alle leben wir „von der Hand in den Mund“, ohne das als Einschränkung oder Bedrohung zu empfinden, sondern eher als Befreiung aus Abhängigkeiten. Wie Friederike selbst, „Volkswirtin, Historikerin und Lebenskünstlerin“, wie sie die letzte Ausgabe von Oya treffend beschreibt. Das bedeutet, sich nicht unterzuordnen unter die allgegenwärtigen Anforderungen des Wettbewerbs und Verwertungszwanges. Auf Lebensqualität verzichten wir deshalb nicht, weil andere, nicht leistungsabhängige Formen der Reproduktion dabei entstehen, wie gerade diese Sommeruni einmal mehr bewies.

Hamburger Hafen – Clash of Civilizations

Solcherart im eigenen Tun bestärkt und mit offenen Augen für alles Widerständige und Unangepasste fuhr ich anschließend nach Hamburg, zu einer lieben Freundin. Auf mich als Landratte aus einem Binnenland übt der Hamburger Hafen immer wieder eine große Anziehungskraft aus.

Häfen sind, wie Bahnhöfe, Räume wo Menschen aufeinander treffen, die sich sonst kaum begegnen, weil sie in unterschiedlichen Welten leben: Arme und Reiche, „Einheimische“ und „Fremde“, Rucksacktouristinnen und Businessreisende, die große Geschäftswelt und die informelle Wirtschaft, wohl auch die große und die kleine Kriminalität, dort mischt sich money, sex and crime. In Häfen kommt noch die alte und die neue Seefahrerromantik dazu. Die Sehnsucht nach fernen Ländern, die Träume von einem besseren Leben treffen auf enttäuschte Hoffnungen und gescheiterte Lebensentwürfe.

Im Hamburger Hafen treffen diese Lebenswelten auch architektonisch innerhalb eines engen Raumes aufeinander. Da ist die Speicherstadt – Zeugin einer Phase des Kapitalismus, in der Reichtum hauptsächlich im Besitz von Waren bestand. Waren, die produziert, verarbeitet, transportiert, gelagert und verkauft werden mussten. Es brauchte also Fabriks- und Lagerhallen, Zufahrtswege, Transporteinrichtungen.

Nur wenige hundert Meter weiter, die neu entstehende Hafencity – das Symbol für eine Form des Kapitalismus in dem Reichtum durch den Besitz von Dingen erzielt wird, die ihren Wert – so hoffen die Besitzer – von selbst vermehren, durch Investition, Spekulation, geschicktes Kaufen und Verkaufen von unterschiedlichsten Wertpapieren, Zertifikaten, Derivaten, wird Vermögen vermehrt, ohne dass dafür Waren ihren Besitzer wechseln.

In den Bürogebäuden hier werden keine Waren bewegt. Höchstens, im besten Fall, per Mausklick die Besitzrechte an ihnen. Öfter werden Wetten abgeschlossen, ob diese Waren – oder irgendwelche anderen Dinge – im Kurs steigen werden. Aber auch wenn sie fallen, kein Problem, man kann auch damit Gewinne machen. Sind doch auch diese Immobilien hier für viele nur Spekulationsobjekte, von denen angenommen wird, dass ihr Wert steigen wird, darum kann man auch einen Kredit aufnehmen, um sie zu erwerben. Gebraucht werden sie nicht unbedingt. In Hamburg stehen angeblich 20 % der Wohnungen und Geschäfte in der Innenstadt leer, wie in vielen Städten. Ich hatte den Eindruck, dass es in Amsterdam und Rotterdam noch mehr waren, trotzdem wird hier gebaut auf Teufel komm raus, und natürlich nur vom Feinsten und damit vermutlich die nächste Immobilienblase produziert. Möglicherweise wird ja auch schon darauf gewettet, dass einige der Menschen den Kredit, mit dem sie sich diese Wohnungen kaufen, nicht zurückzahlen können.

In der Auslage eines Immobilienmaklers werden die Wohnungen des Viertels angepriesen, kaum eine unter 100m2, kaum eine unter 1 Mio Euro. Ich beginne zu rechnen. Die meisten Leute, die ich kenne, dürften so um die 15 bis 20 000 Euro netto im Jahr verdienen. 50 Jahresgehälter für eine Wohnung, mehr als ein ganzes Erwerbsleben – wer soll sich das leisten können? Und die Prospekte geben auch darüber Auskunft. Bei 120 m2 sind zumindest in den Grundrissen keine Kinderzimmer vorgesehen. Da gibt es zuerst ein Arbeitszimmer, wenn es ein Zimmer mehr wird, ein Gästezimmer. Erst ab 5 Zimmern und etwa 180m2 kommt ein Kinderzimmer vor. Natürlich kann man die Zimmer auch anders nutzen, aber was in solchen Plänen steht, drückt doch die in einer Gesellschaft herrschenden Standards aus und reproduziert sie auch wieder. Also, eh klar, double-income-no-kids. Oder Kinder nur, wenn man ganz reich ist.

Auch mit weniger Geld Kinder gibt’s zum Glück in der Hafenstraße in St. Pauli, jenem Stadtteil, der wiederum nur wenige Minuten entfernt ist und so etwas wie eine Gegenwelt repräsentiert, den Raum der Unangepassten, die sich dem Druck der Verwertbarkeit widersetzt haben. Die Menschen hier haben ihr Stadtviertel gegen die Spekulanten verteidigt und mit Kampfgeist und Kreativität ihre Freiräume bewahrt.

Und sie tun es heute noch, gleich um die Ecke, wo das Bernhard-Nocht-Quartier entstehen soll, wieder ein profitträchtiges Luxusquartier, das die Menschen, die jetzt dort wohnen, aus dieser Gegend verdrängen würde. Die Initiative noBNQ wehrt sich dagegen. Und während in der Hafencity die Elbphilharmonie ihrer Fertigstellung entgegenwächst, gibt es in der Hafenstraße ein Benefizkonzert der „Elbdisharmonie“ für die Gerichtskosten, die bei der Praxis zivilen Ungehorsams eben manchmal anfallen. Was hier die Maßschneiderei ist dort der Umsonstladen, hier das Luxusrestaurant, dort die Volxküche, hier das Rechtsanwaltsbüro, dort die Rote Hilfe, hier Markt und Konsumzwang in höchster Ausprägung, dort Selbstorganisation und damit, zumindest zu einem gewissen Grad, Autonomie.

An Nordsee und Ostsee

Dann kamen die Tage im gastfreundlichen Haus von Margarete und Jean-Pièrre im Galmsbüllkoog, nur durch einen Deich von der Nordsee getrennt.

Die Ostsee, zu der ich auch noch wollte, zeigte sich abweisend. Anhaltend schlechtes Wetter veranlasste mich umzudisponieren und mich eher auf die Städte zu konzentrieren. Flensburg, Kappeln, die Schlei und schließlich Lübeck habe ich mir angeschaut. Mein Kontakt mit der Ostsee beschränkte sich auf eine Radtour von Kappeln aus und als ich dort ankam, kam sogar die Sonne heraus.

Ich habe die freie Zeit genossen, die gemeinsamen Aktivitäten, die wunderschönen Städte wie alle anderen Touristen durchwandert, Schiffsrundfahrten gemacht und das eine und andere Museum besucht, da hat frau zumindest ein Dach über den Kopf, wenn es wieder einmal regnet. In Flensburg fand gerade ein Hafenfest statt, viele altehrwürdige Segelschiffe waren im Hafen verankert und auch in der Flensburger Förde unterwegs. Außerdem feierte die Marineschule in Mürwik gerade ihr 100-jähriges Jubiläum, nicht nur das Segelschiff Gorch Fock, sondern auch der Bundespräsident waren zu Besuch. Nicht dass ich meine Begeisterung für die Marine entdeckt hätte, aber schön anzuschauen sind sie doch, die alten Schiffe und die repräsentativen Bauten. Wirklich  empfehlenswert und auch eher „Kultur von unten“: das  Theaterfigurenmuseum in Lübeck.

Aber wo ich auch bin, ich mache mich doch immer auch auf die Suche nach den Orten abseits der Touristenströme, nach Räumen, die sich der Vermarktung entziehen, wo Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und Widerstand leisten. Denn solche Orte sind die Basis subversiver Lebensweisen und die Voraussetzung für die Überwindung von Machtverhältnissen. Auch das sagt Friederike in ihrem Buch:

„Jede Subversion eines hegemonialen Raums hängt von den Ressourcen marginalisierter Räume ab, und die Verteidigung der Möglichkeiten, die durch Subversion eröffnet werden, hängt ihrerseits von der Konstruktion und Stärkung alternativer Räume ab.“

Freiräume

Und es gibt sie überall, auch dort, wo man sie auf den ersten Blick vielleicht gar nicht vermuten würde. Zum Beispiel dort, wo Menschen seit Jahrhunderten sich gegen das Meer verteidigen und Land dem Meer abringen. In früheren Zeiten mussten beim Deichbau alle mithelfen, „wer nicht will deichen, der muss weichen“ hieß die einfache Regel. Heute gibt es dafür eine zuständige Landesabteilung, die die Deichbauten kontrolliert und in Schuss hält. Während das fruchtbare Land innerhalb der Deiche im Privatbesitz von Bauern ist, sind die Deiche und das Land davor so etwas wie ein Common. Viele Menschen nutzen es, übernehmen aber auch Verantwortung. Bauern lassen dort ihre Schafe weiden, dafür düngen diese die Wiesen und verdichten den Untergrund, was sehr wichtig ist, damit die Deiche nicht unterspült werden. Dasselbe tun die Wanderer, die dort unterwegs sind (nicht weiden, aber den Boden verdichten), natürlich nicht ohne die Gatter zu schließen, damit die Schafe nicht davon laufen. Und Margarete holt von dort das von der Flut angespülte Seegras, mit dem sie ihren Garten mulcht.

Oder in Maasholm, einem kleinen Fischerdorf an der Ostsee. Dort liegt im Hafen ein riesiger Haufen an Netzen, Kisten und sonstigem Material, das Fischer so brauchen und von dem ich nicht weiß, wie es heißt, und ich frage mich, wie die Fischer das ihre wieder herausfinden. Ich hatte schon gelesen, dass es für die kleinen Fischer immer schwerer wird, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Schild am Gebäude neben dem großen Haufen klärt mich auf: es handelt sich um die örtliche Fischereigenossenschaft, die ihre Produktionsmittel offensichtlich vergemeinschaftet hat.

Und dann gibt es natürlich in den Städten auch die Stadteile, wo die Touristen kaum mehr hinkommen, wo Bürgerinnen und Bürger sich Freiräume schaffen und Alternativen leben. Nicht nur, wie oben beschrieben, in Hamburg. Da ist auch in Flensburg das alte Volksbad, das jetzt ein alternatives Veranstaltungszentrum ist, der Infoladen und das Umwelt- und Initiativenzentrum. Und in Flensburg an der dänischen Grenze ist die Frage autonomer Räume immer auch verbunden mit der Frage der dänischen Minderheit.

Obwohl man eigentlich denken sollte, zwischen Dänen und Deutschen könnte es solche Probleme gar nicht geben. Aber aktuell plant die Schleswig-Holsteinsche Landesregierung für Kinder in dänischen Schulen nur 80 % des Betrages zu zahlen, den sie für die deutschsprachigen Kinder ausgibt. Und das ist eine eindeutige Diskriminierung, gegen die sich die Menschen wehren. „Unsere Kinder sind auch 100 % wert“, kann man auf unzähligen Plakaten auf dänisch und deutsch lesen.

Und da ist in Lübeck die etwas andere Einkaufpassage – der Werkhof, ein Zusammenschluß mehrerer selbstverwalteter Betriebe und Projekte, die Entscheidungen demokratisch treffen und sich nicht an Gewinnmaximierung, sondern an sozialen und ökologischen Kriterien orientieren.

Dazu gehören das vegetarische Bistro „Café Affenbrot“, ein Laden für Naturkosmetik und -textilien, das sehr empfehlenswerte Rucksackhotel, eine Fahrradwerkstatt (die es dort offensichtlich nicht mehr gibt, Update 21.04.2014), eine Handlung für Naturbaustoffe und eine Car-sharing-Genossenschaft.  Und da ist zu guter Letzt die Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft, die einen großen Bioladen betreibt und sich auch in Naturschutz und Umweltpädagogik engagiert.

Also doch – wenn man genauer schaut, kann man immer auch ein bisschen  Urlaub vom Kapitalismus machen und man kann immer die subversiven Räume finden, die Spuren der Veränderung, die immer schon passiert. Und man hat die Möglichkeit selbst teilzuhaben und mitzumachen an diesen Schritten der Veränderung. Wenn man sich die Machtverhältnisse anschaut, scheint es ein aussichtsloser Kampf zu sein. Aber die These bestätigt sich, dass genau jene erkämpften Freiräume neue, weitere Veränderungen ermöglichen. Was das geplante Bernhard-Nocht-Quartier betrifft etwa, geschehen erstaunliche Dinge: Die Betreiber sind bereit, der Initiative noBNQ die ganze Anlage zu verkaufen, die Stadt verspricht Unterstützung. Mit Hilfe des Mietshäusersyndikats soll ein ganzer Stadtteil in Bürgerhand übergehen! Damit holt die Gegenwelt gewaltig an realem Raum auf :-). Kapitalismus ist keine Totalität, Macht ist immer bedroht, die Kämpfe um Autonomie und Freiheit sind allgegenwärtig, wenn Freiheit als endgültiger Zustand auch nicht erreichbar ist. Der Urlaub vom Kapitalismus kann Normalzustand werden!

Mehr Fotos der subversiven Räume finden sich hier.