Seit etwa einem Monat unterwegs Richtung Gaza, bewegt die Sumud Flotilla im Augenblick wirklich ganz Italien, auch ich lasse mich von der Aufregung anstecken. Und ich hab mich gefragt, was passiert da eigentlich und warum ist es so ansteckend? Weil ich dazu in deutschsprachigen Medien kaum etwas lese, dachte ich, ich schreibe meine Gedanken einmal auf.

Ich habe mich im letzten Jahr viel mit dem Thema Palästina beschäftigt, nicht, dass ich jetzt Lösungen wüsste, aber zumindest so viel, dass ich mir Gedanken dazu machen, und sinnvolle Fragen stellen kann. Dass soll aber heute nicht das Thema sein. Für heute genügen zwei Voraussetzungen, die, so denke ich, die meisten Menschen teilen können, und die auch schon Gerichte und Experten bestätigt haben:

  1. Was in den letzten Monaten in Gaza passiert ist ein Genozid, der sofort beendet werden muss.
  2. Die Besetzung des Gazastreifens und damit auch die Inanspruchnahme des Meeres vor Gaza als israelisches Hoheitsgebiet sind illegal, werden aber von der Weltgemeinschaft mehr oder weniger geduldet, teilweise sogar unterstützt. Wikipedia

Das sind genau die Punkte an denen die Flotilla ansetzt.

Die Sumud Flotilla

„Die Sumud Flotilla ist eine internationale, zivilgesellschaftlich getragene maritime Initiative, die Mitte 2025 ins Leben gerufen wurde, mit dem Ziel, die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Der Name leitet sich von ṣumūd (arabisch für „Standhaftigkeit“) ab“, so weiß es Wikipedia. Die Webseite zur Initiative findet sich hier.

Bei uns hauptsächlich dadurch bekannt geworden, dass Greta Thunberg in Barcelona in eines der Schiffe gestiegen ist, und oft auch mit nachsichtigem Lächeln als übertriebener Aktivismus unbedarfter junger Menschen dargestellt, handelt es sich um über 50 Schiffe mit mehreren 100 Teilnehmer*innen aus mehr als 44 Ländern, viele davon aus dem Globalen Süden. Aus Malaysia etwa sind mehrere Menschen mit staatlicher Finanzierung angereist. An Bord auch Vertreter*innen großer Menschenrechtsorganisationen sowie Mitglieder des europäischen und nationaler Parlamente. Der Start erfolgte von verschiedenen Häfen in Spanien, Frankreich, Italien, Tunesien, Griechenland. In Italien sind es vor allem Gewerkschaften der Hafenarbeiter die dahinter stehen. Vor wenigen Tagen hat sich mit der CGIL auch die größte Gewerkschaft angeschlossen.

Die Schiffe haben auch Medikamente und Nahrungsmittel geladen, das aber ist selbstverständlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Das wahre Ziel der Aktion ist es, die illegale Blockade der Häfen in Gaza durch Israel zu durchbrechen, bzw. die Staaten diesbezüglich zum Handeln zu zwingen. Deshalb gehen auch diverse Angebote, die Hilfslieferungen an andere Hilfsorganisationen abzugeben, damit diese sie nach Gaza bringen, am Sinn der Sache vorbei, und werden abgelehnt.

Fühere Versuche einzelner Schiffe Gaza zu erreichen, endeten damit, dass die Schiffe von Israel abgefangen, die Besatzungen verhaftet und ausgewiesen wurden. Darum steigt die Spannung, je näher die Schiffe an ihr Ziel kommen. Heute, am 1. Oktober 2025, um 2 Uhr früh, haben sie die imaginäre Linie überschritten, die sie in das von Israel beanspruchte Hoheitsgebiet bringt, das aber nach mehrheitlicher völkerrechtlicher Meinung palästinensisches Gewässer, oder, in Ermangelung eines Staates, der dieses Recht ausüben könnte, internationales Gewässer ist. Soweit die Fakten. Im folgenden berichte ich über meine Erfahrungen in Italien, weil ich die gerade hautnah miterlebe. Es handelt sich dabei um meine Wahrnehmung, die ich wo möglich, mit Links zu Zusatzinfos belege, der Text hat keinen Anspruch auf umfassende oder objektive Information.

Warum die Aufregung?

Gestern abend haben sich mehr als 60 Menschen auf einem Platz im Zentrum von Orvieto getroffen – für eine kleine Stadt wie Orvieto sind das erstaunlich viele – um zu überlegen, was zu tun sei, wenn die Flotilla in der kommenden Nacht von Israel angegriffen werde. Die Gewerkschaften haben schon klar angekündigt, in dem Moment, wo das geschieht, treten sie sofort in unbefristeten Generalstreik. Die italienischen Gesetze erlauben dies, im Falle einer drohenden Gefahr für die Verfassung. Es gab Stimmen, die dies auch hier in der Stadt umsetzen wollten: sobald die Flotilla angegriffen wird, blockieren wir um 8 Uhr früh – was, dafür gab es unterschiedliche Ideen. Während es in einem Betrieb möglich ist, einen Streik von einer Stunde auf die andere umzusetzen, scheint das in einer Stadt kaum machbar, vor allem nicht gleich am Morgen. Also siegte der Realitätssinn und man einigte sich auf den Nachmittag. Ähnliches geschieht gerade in vielen italienischen Städten. In dem Augenblick, da ich dies schreibe, habe ich noch nichts darüber gehört, dass die Flotilla angegriffen worden wäre.

Aber warum fiebern hier eigentlich so viele Menschen mit dieser Flotilla mit? Das beginnt natürlich damit, dass es in Italien schon seit zwei Jahren eine sehr starke Solidaritätsbewegung mit Palästina gibt, als bei uns noch jede Äußerung in diese Richtung mit dem Vorwurf des Antisemitismus und Unterstützung einer der terroristischen Organisation bestraft wurde. Manches, was hier geäußert wird, sehe ich durchaus mit gemischten Gefühlen, das Pendel schlägt hier manchmal in die andere Richtung aus und führt zu einer Überhöhung der Hamas als Befreiungsbewegung. (Ich denke, das beides zutrifft, dazu ein andermal mehr, wie man zur Hamas steht, spielt in diesem Beitrag eine untergeordnete Rolle). Ohne diesen Hintergrund ist es nicht zu verstehen, was gerade in Italien abläuft, weil die Strukturen für diese Bewegung schon vorhanden und gefestigt waren.

Dazu kommt, dass wir alle, im Grunde als Weltgemeinschaft, seit Monaten Zeug*innen eines Genozid werden, und, wer nicht wegschaut, muss es sich eingestehen, uns dadurch mit schuldig machen. Die Organisation Medico hat immer wieder darauf hingewiesen. Gleichzeitig gab es da aber ein ganz großes Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, egal was wir hier als Zivilgesellschaft machen, es ändert nichts an der Situation in Gaza. Erst in den letzten Wochen hatten die Aktionen das Ziel, die jeweils nationalen Regierungen zum Handeln zu bewegen, was auch zum Teil gelungen ist, wie die steigende Zahl der Regierungen zeigt, die den Staat Palästina anerkennen – eine auch eher symbolische Handlung, die aber doch Aufmerksamkeit erregt. Die Menschen in den Booten haben dieses Gefühl der Ohnmacht überwunden, sie tun etwas, sie haben es selbst in die Hand genommen, was die Staaten seit Jahren versäumt haben: der Illegalität der israelischen Besatzung die Stirn zu bieten und Entscheidungen der Gerichte ernst zu nehmen und danach zu handeln.

Das denke ich, ist es, was die Menschen hier so motiviert, sie dazu bewegt, sich tagtäglich, zusätzlich zu ihrer Arbeit, auf den Straßen zu versammeln, um ihre Solidarität zu zeigen, um sofort eingreifen zu können, wenn die Flotilla angegriffen wird, und Druck auf ihre Regierungen zu machen, falls es zu Verhaftungen, oder sogar zu Verletzten kommen sollte. Endlich hat man das Gefühl, an etwas wirklich Relevantem, Konkreten, Praktischen teil zu haben. Endlich hat die Ohnmacht ein Ende. Soviel zur einen Seite. Für mich persönlich muss ich ergänzen, dass ich immer noch das Gefühl habe, dass es ziemlich egal ist, ob wir hier in Orvieto für kurze Zeit die Bahnstrecke oder Autobahn blockieren, aber das liegt vielleicht am Alter, oder daran, dass ich Österreicherin bin. Trotzdem lasse ich mich anstecken von der Motivation der anderen ;).

Nun ist die Situation aber schon so angespannt, der Druck auf die Regierung so groß, dass sich auch die Politik nicht mehr raushalten kann. Neben Italien haben auch Spanien und die Türkei Kriegsschiffe entsandt, um die Flotilla zu begleiten. Das italienische Schiff hat an der imaginären Linie Halt gemacht, die Spanier und Türken fahren weiter. Was wird passieren?* Für mich scheint klar: etwas wird in Bewegung kommen.

Und damit beschäftigt das Thema auch die obersten politischen Ebenen. Während die Opposition, Demokraten, 5 Sterne und die links-grüne Allianz auf Seite der Aktivist*innen stehen, windet sich Meloni heraus. Die Aktion sei gefährlich (stimmt), unverantwortlich (nicht unverantwortlicher als alles was in den letzten Jahren bezüglich illegaler Besetzung und genozidaler Praxis von Seiten der Regierungen unternommen – oder besser gesagt – unterlassen wurde), verhindere den Frieden (wohl hauptsächlich den der Regierungskoalition, wenn Netanyahu den Willen zum Frieden hätte, würde er sich kaum von der Flotilla aufhalten lassen), ja verstärke sogar die Kriegsgefahr. Dieser letzte Punkt ist nicht von der Hand zu weisen, ich verstehe sogar, dass das italienische Schiff nicht in des von Israel beanspruchte Hoheitsgebiet eingedrungen ist, solche Fragen sollten nicht mit Kriegsschiffen geklärt werden. Allerdings wird damit wieder indirekt der Anspruch Israels anerkannt … Meloni forderte die Flotte auf, ihre Hilfslieferungen auf andere Schiffe umzuladen, und umzukehren – was nicht geschehen ist. Die Zeitungen bilden, wie sollte es anders sein, in etwa die beiden Seiten der politischen Meinung ab.

Ich habe auch gelesen, dass der Vatikan angeboten hätte, eine katholische Hilfsorganisation könne die Lieferungen entgegennehmen, um zu verhindern, dass sie der Hamas in die Hände fallen, was eines der wichtigsten Argumente Israels ist. Eine Lösung, die ich gut fände, habe dafür aber im Netz keinen Beleg gefunden.

Ziviler Ungehorsam?

Interessant ist jedoch eine juristische Einordnung, die die linke italienische Zeitung Manifesto trifft: Was die Flotilla macht, wird im Allgemeinen als „ziviler Ungehorsam“ bezeichnet, was jedoch nicht zutreffe. Ziviler Ungehorsam bedeutet, bewusst Gesetze im Namen höherer Werte zu überschreiten, um diese Gesetze in Frage zu stellen, und damit bewusst auch strenge Strafen in Kauf zu nehmen. Als sich Rosa Parks im Bus auf einen für Weiße vorgesehen Platz gesetzt hat, hat sie ein bestehendes Gesetz gebrochen. Bei der Flotilla sei es genau umgekehrt: sie machen nichts Illegales, sondern handeln im Einklang mit internationalem Recht, um dieses durchzusetzen, weil es die Regierungen nicht machen.

Und wem hilft das jetzt?

Ich habe es schon angedeutet, ich habe immer noch meine Zweifel, ob unser Grüppchen hier in Orvieto etwas bewirken kann. Ein wichtiger Aspekt solcher Aktionen ist immer, dass wir auch etwas für uns machen. Mit 60 anderen einfach die Wahrnehmung der Situation zu teilen, die Hoffnungslosigkeit, den Zorn und die Trauer, ist auch psychologisch wichtig. Und wenn auch die Aktion in Orvieto alleine sicher nichts bewirkt, zusammen mit allen anderen erhöhen wir doch den Druck auf die Regierungen. Und da habe ich in den letzten Tagen durchaus das Gefühl, dass etwas erreicht wurde. Dass Wegschauen nicht mehr funktioniert, dass die Ausflüchte, das Geschehen lassen, die Symbolpolitik nicht mehr funktionieren. Es ist klar geworden, dass die internationale Zivilgesellschaft nicht mehr mit anschaut, dass Entscheidungen internationaler Gerichtshöfe nicht umgesetzt werden. Egal was mit der Flotilla passiert, es wird, so hoffe ich zumindest, kein Zurück mehr zum vorherigen Zustand geben. Und das wäre schon gar nicht so wenig. Und so gesehen, gibt es Mut, sich zu dieser internationalen Zivilgesellschaft zu zählen.

*Korrektur am 2.10.:  Auch das spanische und türkische Begleitschiff haben an der imaginären Linie Halt gemacht, dazu ein Schiff mit juristischen Expert*innen, die rechtliche Unterstützung leisten.

Ein Gedanke zu “Die Flotilla bewegt Italien”
  1. Ich bin absolut begeistert von diesen Menschen, die da auf die Straße gehen und Haltung einfordern. Im Gegensatz zu diesem traurigen und entsetzlichen Diskurs, der in Österreich nicht nur von den Massenmedien, sondern auch von weiten Teilen der Linken und Grünen getragen wird. Ein breiter gesellschaftlicher Widerspruch gegen Krieg und Völkermord und ziviler Ungehorsam im Namen der Solidarität, der ganze Städte lahmlegt – davon kann man bei uns nur träumen.

    Hoch die internationale Solidarität! Nein zu allen Kriegstreibern! Nein zu allen Kriegen!
    Und lang lebe die Antifa! 🙂

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