Nachdem ich in letzter Zeit viel über Lohnarbeit nachgedacht habe und über Selbstorganisation als Gegenpol und Alternative dazu, fällt mir immer wieder aus eigener Erfahrung ein, wie – unter bestimmten Bedingungen und über einen kürzeren Zeitraum – das doch auch zusammengehen kann.

Anfang der 90er Jahre wurde in Österreich das Pflegegeld eingeführt und damit fiel auch der Startschuss für den Aufbau mobiler Altenpflegedienste. Ich war eine der Frauen, die diese Aufbauarbeit in Bad Aussee geleistet haben. Außer einer nur geringfügig beschäftigten Krankenschwester waren wir lauter „Laiinnen“ (schreibt man das so??), Frauen, die keine Pflegeausbildung, aber auf Grund ihrer geschlechtsspezifischen Tätigkeiten durchaus Erfahrung mit alten Menschen hatten. Zu Beginn mussten wir alles machen – vom Kochen und Putzen bis zu Dekubitus verbinden und Insulin spritzen. Letzteres war weder lustig für uns noch gut für die KlientInnen, weil wenn frau solche Dinge tun muss, ohne eine Ahnung davon zu haben, kann sie auch viel Schaden anrichten. Aber das änderte sich bald. Die medizinische Versorgung übernahm die Krankenschwester und wir bekamen eine Ausbildung, die erste Heimhilfenausbildung der Steiermark. Es war eine gute Ausbildung mit guten Lehrenden, in der wir lernten, dass es wichtig sei, die Persönlichkeit und Eigenheiten der alten Menschen zu respektieren und sie möglichst viel selbst tun zu lassen, auch wenn wir selbst es schneller machen könnten. In Rollenspielen erfuhren wir, wie es ist, wenn die Seh- und die Hörkraft nachlassen, wenn man auf andere Menschen angewiesen ist. Wir hörten, dass wir die alten Menschen auch dabei unterstützen sollten, ihre sozialen Beziehungen aufrecht zu erhalten, dass wir auch wichtige Gesprächspartnerinnen für sie sein sollten und wir erwarben natürlich auch medizinische und pflegerische Kompetenzen. Das machte es uns möglich, unsere Arbeit gern und gut zu machen und wir erwarben uns schnell viel Ansehen in der Gemeinde.

Dass wir unsere Arbeit gern machten, hing aber nicht nur damit zusammen, dass wir dafür gut ausgebildet waren, sondern auch damit, dass wir sie weitgehend selbst organisieren konnten, mit unseren KlientInnen als gleichberechtigten PartnerInnen. Wir vereinbarten mit ihnen, wer gerne was wann hätte und teilten uns die KlientInnen so auf, dass sich das gut ausging. Hatte jemand einen schwierigen Klienten und wollte grade einmal nicht hin, dann haben wir uns auch abgewechselt. Als wir merkten, dass es für einige von ihnen nicht gut war, am Wochenende 2 Tage allein zu sein, organisierten wir uns selbst und ohne Auftrag von irgendwem einen Wochenenddienst. Jede von uns konnte eine andere anrufen, wenn sie einmal aus persönlichen oder familiären Gründen etwa einen Abenddienst nicht übernehmen konnte. Gab es etwas Wichtiges, was wir uns über einen bestimmten Klienten mitteilen wollten, haben wir uns einfach gegenseitig angerufen. Klar, manchmal haben auch KlientInnen angerufen und einige von ihnen konnten ganz schön lästig werden, aber als Gruppe konnten wir immer gute Lösungen finden.

Aber es ging nicht nur um den direkten Kontakt mit unseren KlientInnen, sondern um die Interaktion mit einem weiteren Umfeld, das die Qualität unserer Arbeit für die Gemeinde ausmachte. So betreuten wir etwa einige Personen im Seniorenwohnheim. Und immer wieder kam es vor, dass Menschen, die ansonsten keine Betreuung hatten, fragten, ob wir nicht z.B. eine Glühbirne reindrehen könnten. Oder, wenn das Wetter sehr schlecht war, ob wir nicht Brot oder Milch aus dem Ort mitbringen könnten, usw., was wir immer gerne machten, wir waren ja sowieso da. So kannten sie uns schon und bauten ein Vertrauensverhältnis auf, was ihnen die Angst davor nahm, selbst einmal Pflege zu brauchen. Oder ich trafen im Supermarkt die Tochter einer der alten Frauen, die ich betreute und sie klagte mir ihr Leid, oder ich redete, nachdem ich meine Arbeit bei einer Frau, von der wir wussten, dass sie bald sterben würde, beendet hatte, noch eine halbe Stunde in der Küche mit ihrem verzweifelten Mann. Manchmal haben wir nachmittags jemanden für einen Ausflug abgeholt. Für alle solche Dinge verlangten wir natürlich kein Geld, wir schrieben sie nicht in unsere Abrechnung. Für uns war es wichtig, dass wir ausreichend verdienten, dass wir die Stunden zusammenbrachten, für die wir angestellt waren, dass aber auch unsere KlientInnen sich die Betreuung noch leisten konnten. Das heißt, wir haben fast immer mehr „gearbeitet“, als wir verrechnet haben, es kam uns aber nicht als „Arbeit“ vor, es war einfach etwas, das notwendig war und deshalb richtig war. Es war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich Lohnarbeit – denn eine solche war es ja trotzdem, ich wurde von der Volkshilfe bezahlt – wirklich gerne gemacht habe, jeden Tag gern zur Arbeit gegangen bin.

Aber diese selbstorganisierte Idylle währte nicht lange, denn nach wenigen Jahren gab es eine neue Leitung der Volkshilfe Steiermark, die vor allem betriebswirtschaftliche Aspekte in den Mittelpunkt stellte, denn die Volkshilfe hatte sich – als erster sozialer Trägerverein in der Steiermark – das Ziel gesetzt, ein wettbewerbsfähiges Unternehmen zu werden. Ich glaube, ich habe damals das Wort „Wettbewergsfähigkeit“ zum ersten Mal gehört und ich hab mir gedacht, es muss eine Art Geisteskrankheit sein – aus heutiger Sicht eine ziemlich korrekte Einschätzung ;-). Es folgte die ISO-Zertifizierung und alle Abläufe und Tätigkeiten wurden streng normiert. Bestimmte Tätigkeiten durften nur mehr eine bestimmte Zeit dauern, die KlientInnen wurden nicht zu der Zeit besucht, wo sie es gerne wollten, sondern wie es sich vom Weg her am besten einteilen ließ. Die Pausen zwischen den einzelnen Hausbesuchen durften nicht mehr länger als 10 Minuten sein. Wir durften den Klienten nicht mehr unsere Telefonnummern geben und sie auch nicht mehr selbst anrufen, jede Kommunikation – auch zwischen uns – musste nun über die Einsatzleitung laufen.

Es gab plötzlich ein „Leitbild“, in dem all die Qualitäten unserer Arbeit aufgelistet wurden, die für uns selbstverständlich waren. Wir bemerkten nur zu bald, dass sie – erst einmal im Leitbild deponiert – sich aus dem Alltag verabschieden sollten. Denn nun hörten wir, wir sollten uns doch von den alten Leuten nicht um den Finger wickeln lassen und „zum Reden hamma ka Zeit“. Und wir hörten, diese strenge Kontrolle und Regulierung sei leider notwendig, denn „wer behauptet, dass er die Firma noch nie betrogen hat, der lügt“. Dieser Satz fasst einige der zentralen Aspekte der Lohnarbeit zusammen, nämlich, dass es eine Firma gibt und Lohnabhängige, die für diese Firma arbeiten und dass die beiden grundsätzlich einander widersprechende Interessen hätten, dass die einen daher immer versuchen, die Firma zu betrügen, weshalb diese sie kontrollieren muss. Nur: für uns traf das nicht zu – es  hatte bisher keine „Firma“ gegeben, der wir irgendwie gegenüber gestanden wären, die Volkshilfe, das waren WIR und wieso hätten wir uns selbst betrügen sollen? Da gab es keine widersprüchlichen Interessen in unsere kleinen, heilen Welt, in die da so plötzlich der Kapitalismus einbrach.

In meiner, leider nie vollendeten, Dissertation habe ich es so beschrieben:
Die Arbeitgeber in sozialen Dienstleistungsunternehmen vertreten keine Kapitalinteressen, durch knappe finanzielle Mittel werden sie aber in die Situation gebracht, sich so verhalten zu müssen, sie sind zu betriebswirtschaftlicher Effizienz gezwungen, sie müssen die Lohnkosten niedrig halten, was einen künstlichen Klassenkonflikt erzeugt.

„Wer behauptet, dass er die Firma noch nie betrogen hat, der lügt“ – diesen Satz werde ich nie vergessen, denn mit diesem Satz wurden wir enteignet. Man hat uns weggenommen, was wir aufgebaut hatten, unsere eigene Arbeit wurde nun gegen uns verwendet. Wir bekamen Dienstautos (davor hatten wir eigenen Autos benutzt, ich war meist mit dem Rad gefahren), hübsche Dienstkleidung und auch sonst allerhand praktische Dinge, die wir früher manchmal selbst besorgt hatten – aber die Bedingungen, unter denen wir sie verwenden durften, konnten wir nicht mehr selbst festlegen. Und ab diesem Zeitpunkt mussten wir leider anfangen, die Firma zu betrügen. Ich habe noch immer weniger Stunden geschrieben, als ich gearbeitet habe, aber die Zeiten die dort auf meinem Stundenzettel standen, waren natürlich rein fiktive. Denn ich habe nach wie vor mit dem Mann in der Küche geplaudert, mit den Angehörigen im Supermarkt gesprochen, Leute zum Nachmittagsspaziergang abgeholt und der Nachbarin die Glühbirne reingeschraubt. Ich habe auch jetzt nicht Leuten, die um 9 Uhr ihr Frühstück hatten um 11 das Mittagessen gebracht, nur weil das so in meinem Dienstplan stand. Ich bin, so wie davor, erst mal heimgefahren, hab das Mittagessen für meine Familie gekocht und dann um 1 nochmal weg, um „meiner“ Klientin ihr Mittagessen zu machen. Aber ich durfte das natürlich so nicht aufschreiben, denn es durfte ja keine Pausen zwischen den Einsätzen geben – was die ganze Abrechnerei ziemlich kompliziert machte. Meinen Dickkopf bekam unsere Einsatzleiterin wohl manchmal zu spüren, wenn ich einfach sagte, ich mach das nicht so – sie hat es meist toleriert. Auch wenn ich danach noch ein gutes Jahr bei der Volkshilfe gearbeitet habe, bevor ich schließlich nach Graz ging, an diesem Tag, an dem dieser Satz gesagt wurde, habe ich meine innere Kündigung vollzogen.

Weil Graz weit weg war, konnten wir noch eine Zeit lang zumindest einigermaßen so weitermachen, wie bisher. Aber die mobile Altenpflege war und ist ein Wachstumsmarkt. Aus den anfangs 5 MitarbeiterInnen waren wenige Jahre später schon 20 geworden. Und die „Neuen“ kannten nichts anderes, für sie war es ein Job wie jeder andere, die „Alten“ gingen nach und nach weg und so konnten die neuen Spielregeln ohne größere Widerstände durchgesetzt werden. Heute ist es noch viel schlimmer. Mit ihren Handys müssen die MitarbeiterInnen ihre Einsatzzeiten in Echtzeit durchgeben, die Kontrolle ist lückenlos und allgegenwärtig. Ich nehme an, sie haben trotzdem ihre Wege gefunden, sich Freiräume zu schaffen, um Dinge so zu tun, wie sie sie für richtig halten, aber die Möglichkeiten dafür werden immer geringer. Tätigkeiten werden normiert, zeitlich begrenzt, in einzelne Handlungsschritte zerlegt, jede hat ihren ganz speziellen Aufgabenbereich, zu einer KlientIn kommen oft vier verschiedene Betreuerinnen, was die Kosten für die Betreuten und für die Gemeinden erhöht. Die Handlungs-, Entscheidungs- und Kommunikationsmöglichkeiten der Betreuerinnen werden eingeschränkt. So können Menschen ihre Kompetenzen nicht richtig einsetzen, schlimmer noch, sie wissen sehr häufig, wie sie es richtig machen müssten, sie dürfen es aber nicht so machen.  Während man im Produktionsbereich schon lange gemerkt hat, dass eine solche Art der Arbeitsorganisation die Arbeitszufriedenheit stark reduziert, beginnt man nun mit der „Taylorisierung“ des Dienstleistungsbereiches. Ich denke, die Burnout-Gefährdung im Pflegebereich kommt nicht nur davon, dass es zuwenig Personal gibt, sondern auch davon, dass die Rahmenbedingungen die Angestellten daran hindern, ihre Arbeit so gut zu machen, wie sie es könnten und auch gerne würden und sie daher immer mit schlechtem Gewissen nach Hause gehen.

Es passiert hier eine seltsame Umkehrung. Anstatt dass Produktionsmittel enteignet werden, werden Menschen, die davor schon mit den eigenen Produktionsmitteln qualitativ hochwertige Dienstleistungen erbracht haben, fremde Produktionsmittel praktisch aufgezwungen. Einerseits mit Überzeugungskraft – ein Dienstauto ist in vielen Fällen schon sehr verlockend. Andererseits aber auch dadurch, dass für die Dienstleistungen ein Markt geschaffen wird und die Zugangsregeln zu diesem Markt durch Gesetze (Zertifizierungen und technische und Ausbildungsstandards statt Erfahrung, fachlicher und sozialer Kompetenzen) so gestaltet werden, dass kleine, selbstverwaltete Einheiten diese Kriterien nicht einhalten können und nur durch die ihnen aufgedrängte Zugehörigkeit zu einer „Firma“ weiterhin ihrer Arbeit – wenngleich nun in entfremdeter Form – nachgehen können. Das meine ich, wenn ich sage, wir müssten uns weniger unsere Produktionsmittel, als vielmehr unsere Arbeitsbedingungen wieder aneignen.

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