Für die Vorbereitung einer Veranstaltungsreihe bei der Degrowth-Konferenz in Leipzig habe ich in den letzten Wochen mehrere Bücher von Ivan Illich (wieder-)gelesen. Sicher, manche von seinen Ideen haben sich durch die Entwicklungen seit den 70er Jahren, wo die meisten seiner Bücher erschienen sind, einfach überholt. Sein Optimismus, dass sich die Menschen diese Behandlung nicht mehr lange gefallen lassen würden, daher eine Transformation zu einer postkapitalistischen Gesellschaft kurz bevor stünde, hat sich nicht bewahrheitet. Er hatte die Fähigkeit des Kapitalismus unterschätzt, einerseits kritische Diskurse und Praktiken zu seinem Vorteil zu integrieren, und andererseits eine ausreichend große Anzahl von Menschen davon zu überzeugen, dass es keine bessere Alternative gibt, sodass sich das kapitalistische System immer wieder reproduzieren und immer weiter ausbreiten kann.
Aber seine Diagnose stimmt heute mehr denn je. Ich finde es erstaunlich, dass er bereits vor 30 oder 40 Jahren erkannt hat, was viele andere erst heute erkennen und so die Ideen einer Postwachstumsgesellschaft oder commonsbasierten Gesellschaft damals schon vorweggenommen hat. Vermutlich waren in Lateinamerika die katastrophalen Auswirkungen des Kapitalismus im Allgemeinen und der – oft gut gemeinten – Versuche, den Entwicklungsländern eine „nachholende“ Entwicklung zu ermöglichen im Besonderen, schon zu spüren, als in den Industrieländern zwar schon erste Zweifel auftauchten, aber allgemein die Ansicht vorherrschte, dass mehr vom Gleichen die Probleme lösen könnte.
Was ich nicht wusste: Illich war Theologe. Neben der Philosophie das einzige Fachgebiet, das es Menschen erlaubt, über alles zu schreiben ;). Und das hat er auch getan. Von der Kritik der katholischen Kirche und der Religion überhaupt, kam er schnell zu einer Kritik von Entwicklungspolitik und der Industrie- und Konsumgesellschaft, des Schul-, Gesundheits- und Mobilitässystems, der Art wie Arbeit organisiert wird und der Technik.
Seine wichtigste Argumentationslinie ist jedoch immer sehr ähnlich. Menschen erfinden verschiedenen Werkzeuge um Probleme zu lösen. Den Begriff „Werkzeuge“ verwendet Illich sehr breit. Es kann sich um eine Maschine handeln, ein Transportmittel aber auch um Institutionen wie das Schulsystem, das Gesundheitssystem, die Wissenschaft oder die Marktwirtschaft. Am Beginn haben diese Werkzeuge tatsächlich positive Auswirkungen für die meisten Menschen, sie können die Probleme lösen, für die sie gedacht waren und dadurch die Handlungsfähigkeit der Menschen stärken. Nach einer gewissen Zeit bringen sie keine Verbesserung der Situation mehr hervor. Und dann, noch einmal einige Zeit später, wendet sich ihre Wirkung ins Negative. Sie entwickeln eine Eigenlogik, der sich die Menschen unterwerfen müssen. Was als Werkzeug, als Mittel zum Erreichen eines bestimmten Zweckes, konzipiert wurde, wird zum Selbstzweck. Alles dreht sich nur mehr darum, dieses Werkzeug und seine inherente Logik zu unterstützen. Die Menschen werden dabei zu Sklaven, sie können ihre Fähigkeiten zu Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung nicht mehr einsetzen. Sie können nicht mehr für sich selbst und füreinander sorgen, sondern werden abhängig von Waren und von der Beratung durch ExpertInnen. Sie werden auf die Konsumentenrolle reduziert und gleichzeitig steigen ihre Bedürfnisse ins unermessliche, weil jedes Mittel der Bedürfnisbefriedigung von außen neue Bedürfnisse hervorruft. Mensch braucht immer mehr Waren, immer mehr Beratung, Coaching, Therapie, Bildung, weil er alles was er selbst hervorbringen kann, für minderwertig hält.
Illich meint nun, die wichtigste Fähigkeit, die alle Menschen erlernen müssten, wäre, dass sie erkennen, wann ein Werkzeug diese zweite Schwelle überschreitet und sie zu seinen Sklaven macht. Dann müsste eine Gesellschaft das weitere Wachstum dieses Instrumentes verbieten, um selbst handlungsfähig zu bleiben. Tut sie das nicht, so werden die Werkzeuge unkontrollierbar – was den derzeitigen Zustand ja recht gut beschreibt. Niemand weiß mehr, wie wir den verfahrenen Karren aus dem Dreck ziehen können, weil der Karren längst die Führung übernommen hat. Diese Entscheidung, Werkzeuge, Maschinen und Systeme auf eine Größe zu beschränken, die für die Menschen nützlich ist und sie nicht in ihrer Handlungsfreiheit beschneidet, meint Illich mit dem Buchtitel „Selbstbegrenzung„. Keineswegs ist damit Verzicht in dem Sinne von Sparsamkeit oder persönlicher Einschränkung gemeint. Für Menschen, die vom überbordenden Wachstum von Werkzeugen profitieren, würde eine solche Begrenzung aber doch möglicherweise schmerzhafte Veränderungen bedeuten. Zur Beschreibung von solchen Gesellschaften verwendet Illich das Wort „konvivial“.
Ich wähle den Begriff ‚Konvivialität‘ um das Gegenteil der industriellen Produktivität bezeichnen zu können. Er soll für den autonomen und schöpferischen zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu den konditionierten Reaktionen von Menschen auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Umwelt stehen. Für mich ist Konvivialität individuelle Freiheit, die sich in persönlicher Interdependenz verwirklicht und sie ist als solche ein immanenter ethischer Wert. Ich glaube, dass keine noch so hohe industrielle Produktivität in einer Gesellschaft die Bedürfnisse, die sie unter deren Mitgliedern weckt, wirklich befriedigen kann, sofern die Konvivialität unter ein bestimmtes Niveau sinkt. (S 28)
Eine konviviale Gesellschaft entstünde auf der Grundlage gesellschaftlicher Regelungen, die dem einzelnen den umfassenden und freien Zugang zu den Werkzeugen gewährleisten und diese Freiräume nur um der gleichen Freiheit eines anderen willen einschränken können (S. 30)
Solche gesellschaftlichen Regelungen sind eigentlich fast nur als Commons-Regelungen denkbar. Als Regelungen, die von den Menschen selbst gemacht werden und die verschiedene Lebens- und Produktionsweisen zulassen.