Die Top-Schlagzeile der Morgennachrichten im Radio: die Demokraten haben die Senatswahlen im Bundesstaat Massachusetts verloren, sie haben damit keine Mehrheit mehr im Senat und das Schicksal der – ohnehin schon sehr verwässerten – Gesundheitsreform, einem der wichtigsten Projekte Obamas, steht damit in den Sternen. Diese Gesundheitsreform, so meinte der Kommentator, sei auch einer der Hauptgründe für die Wahlniederlage gewesen, etwa 65% der Bevölkerung seien mittlerweile dagegen. Die Argumentation der Gegner, die das Ende der bürgerlichen Freiheit und die staatliche Diktatur über aller Lebensbereiche heraufbeschworen war erfolgreich. Die unmittelbare Auswirkung des Wahlausganges: die Aktienkurse der Pharmakonzerne und Versicherungsunternehmen schnellten in die Höhe, deren Aktionäre hatten es offenbar als Bedrohung gesehen, dass arme und chronisch kranke Menschen nun zu ihrem Kundenkreis gehören sollten. Kein Wunder, dass die USA etwa doppelt soviel für den Gesundheitssektor ausgeben als europäische Staaten, wenn damit nicht die ärztliche Versorgung der Bevölkerung bezahlt wird, sondern die Gewinne von Versicherungen und Pharmakonzernen.
Dabei heißt es in Artikel 25 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.“
Es gibt wohl wenige Beispiele, die die Absurdität der Börsenlogik besser zum Ausdruck bringen und den Zynismus, der darin zum Ausdruck kommt, wenn nach wie vor Aktienkurse als wichtigster Indikator für den Zustand der Wirtschaft und Wohlstand angesehen werden. Wir kennen das Symptom schon von einem ähnlichen Phänomen: je mehr Arbeitskräfte entlassen werden, desto höher steigen die Aktienwerte. Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut? Diese Parole hat sich längst als falsch herausgestellt! Aber – welche Denkweise steckt dahinter, wenn Menschen den Argumenten der Gegner einer Gesundheitsversicherung für alle folgen? Und – welche Wirtschaft ist denn eigentlich damit gemeint? Ist Wirtschaft wirklich nur das Spiel einer Handvoll börsennotierter Unternehmen und von ein paar Tausend Menschen die den Großteil des Kapitals besitzen und wir alle sind nur der Einsatz in diesem Spiel? Können wir Wirtschaft nicht mehr anders denken als in den Kategorien von Eigentum, Profit und Wachstum, oder richtiger Kapitalakkumulation? Ist Wirtschaft nicht vielmehr alles was Menschen brauchen und tun, um ihre Lebensbedingungen zu reproduzieren? Und woran bemisst sich dann Wohlstand und wirtschaftlicher Erfolg?
Peter Linebaugh trägt mit dem großartigen Buch „The Magna Carta Manifesto. Liberties and Commons for All“ (nicht ganz einfach zu lesen, aber es lohnt sich!) zur Beantwortung dieser Frage bei, in dem er ein grundlegend anderes Wirtschaftskonzept ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt und dessen Schicksal durch die Jahrhunderte verfolgt: die commons.
Im Jahr 1215 trat in England die Magna Carta in Kraft. Ein Gesetz, das allen Menschen bürgerliche Freiheiten garantierte. Zehn Jahre später folgte die Charter of the forest. Diese schreibt alt überlieferte Rechte auf Nutzung von Wäldern durch diejenigen, die selbst kein Eigentum haben, fest. Jeder hat das Recht Holz für Hausbau und Heizung sowie die Früchte aus dem Wald zu entnehmen, Vieh auf die Weide zu treiben und Lebensmittel für seinen Gebrauch anzubauen. Erst dadurch können die bürgerlichen Freiheiten garantiert werden, erst dadurch wird sicher gestellt, dass Menschen nicht von anderen unterdrückt werden können. Diese Rechte werden nicht von einem König gewährt, sondern sie stehen über dem König, er muss sie anerkennen um seinerseits anerkannt zu werden. „Commons“ steht dabei nicht einfach für natürliche Ressourcen. Die commons sind nicht denkbar ohne die „commoner“, die Personen, die die commons nützen, nach traditionellen Regeln, die auch sicher stellen, dass sie nicht übernutzt werden, sondern dass sich ein wechselseitiger Nutzen ergibt. Das Vieh auf der Weide düngt auch den Boden, der Anbau von Lebensmitteln erhält auch die Arbeitskraft der Bevölkerung. Die Tätigkeit der commoner bezeichnet Linebaugh als „commoning“, diese Tätigkeit beschreibt genau das – alle Tätigkeiten, die Menschen brauchen um ihre Lebensgrundlagen zu reproduzieren. Commoning steht für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform, deren Grundeinstellung ist „everything is common“, in der Eigentum grundsäztlich an das Kollektiv rückgebunden wird und in der individuelle Freiheit durch kollektives Handeln permanent hergestellt wird.
Im Lauf der Geschichte wurde diese Form des Wirtschaftens zunehmend in den Hintergrund gedrängt durch die Entstehung des Kapitalismus und durch das „enclosure movement“. „Enclosure“ bedeutet die Einhegung der commons, die Umzäunung der Grundstücke, die damit zu Privateigentum wurden. Die Tätigkeit des „commoning“ wurde verboten und damit kriminalisiert. Den Menschen wurden die Grundlagen ihrer Existenz entzogen, mit der Einhegung der commons ging die Entstehung von kapitalistischen Produktionsverhältnissen einher, Menschen mussten ihre Arbeitskraft verkaufen, um überleben zu können. Schließlich wurde die Freiheit des Einzelnen an das Recht auf Privateigentum gebunden, Freiheit wurde auf Marktfreiheit reduziert, wie wir es seit Adam Smith kennen und wie wir es in seiner extremen Ausprägung im neoliberalen Wettbewerbsparadigma erleben.
Einer großen Zahl von Menschen wurde dadurch die Ausübung ihrer bürgernlichen Freiheitsrechte verwehrt, worauf im vorigen Jahrhundert Thomas Marshall eine Antwort fand: zu den bürgerlichen und politischen Rechten sollten die sozialen Rechte kommen, die garantieren sollten, dass alle Menschen ihre Rechte auch ausüben konnten, also eine ähnliche Begründung wie bei den commons. Diese Rechte wurden als individuelle Rechte den einzelnen Personen zugeschrieben – und wir wissen alle, dass die Anerkennung dieser Rechte nicht ihre Umsetzung garantiert, dass wir bis heute darum kämpfen. Warum? Wenn Rechte jedem einzelnen Individuum zugeschrieben werden, kommen sie zwangsläufig miteinander in Konflikt, wer gewinnt, hängt dann von den Machtverhältnissen ab, wer von anderen abhängig ist, kann seine Rechte nicht durchsetzen, weshalb Machtverhältnisse immer wieder reproduziert werden. Rechte, so lernen wir von Linebaugh, müssen an das Kollektiv rückgebunden werden, dürfen nicht von individueller Durchsetzungsmacht abhängen, sondern müssen durch kollektives Handeln hergestellt und gewahrt werden.
Die Individualisierung von Rechten, die Zuschreibung individuellen Eigentums und die Allokation von Ressourcen über den Markt wurden nicht nur zu den Merkmalen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern beeinflusste auch das Bewusstsein der Menschen, bildete sozusagen den Hintergrund für mögliche Denkmuster, was auch den Erfolg der Gegner von Obamas Gesundheitsreform ermöglichte. Es änderte sich die Vorstellung vom „richtigen Leben“. Galt es vorher als ungesetzlich, die commons einzuhegen (vgl. Gedicht hier), so wurde es mit der Zeit zum Verbrechen, Wälder und Weiden als commons zu nutzen. Commoning wurde zur kriminellen Handlung, die Einhegung von commons führte zu einer Kriminalisierung der commoner, die bis heute anhält, wie man am Umgang der Gesellschaft mit Aneignungsversuchen ersehen kann (z.B. hier oder aktuell bei der polizeilichen Räumung von besetzten Unis). Galt die Nutzung von commons früher als Grundlage für menschenwürdige Lebensbedingungen für alle, galt es später als verwerflich von commons zu leben, es entstand die uns bestens bekannte Sozialschmarotzerdebatte: commons zu nutzen mache Menschen faul und halte sie vom Arbeiten ab. (Was natürlich wieder einen verengten Arbeitsbegriff beinhaltet, auch die Nutzung von commons ist Arbeit, allerdings keine, die Mehrwert für einen Unternehmer hervorbringt. Dazu vielleicht demnächst mehr.)
Was uns die Beschäftigung mit commons heute bringt ist, dass wir Denkmuster jenseits der kapitalistischen Wirtschaftsform entwickeln können. Eine Gesellschaft ohne Lohnarbeit, ohne Konsum über den Markt, ohne Wettbewerb zu denken, ist ja offensichtlich viel schwieriger, als sich einen totalen Zusammenbruch des Systems vorzustellen. Zumindest gibt es jede Menge Bücher und Filme darüber, während wir mit unseren Versuchen uns vorzustellen, wie denn eine nicht-kapitalistische Gesellschaft funktionieren könne, schnell an unsere Grenzen stoßen. Die Idee des „everything is common“, die Vorstellung von „commoning“ als kollektive Reproduktion unserer Lebensgrundlagen, könnte ein Modell dafür liefern. Wie wir dieses Modell an unseren heutigen Lebensbedingungen anpassen, wie wir es politisch durchsetzen können, darauf gibt es uns freilich keine Antwort. Dass commons von Beginn an ein umkämpftes Feld waren, dass sie immer wieder unter Druck kamen, dass ihre Befürworter häufig im Gefängnis landeten, darüber gibt uns Linebaughs Buch Aufschluss. Aber auch darüber, dass sie sich trotzdem bis heute gehalten haben und in Zeiten wirtschaftlicher und ökologischer Krisen möglicherweise einen Ausweg aus dem Dilemma bieten könnten.
Der Umgang mit natürlichen Ressourcen, die Auswirkungen des Klimawandels, die zunehmende Armut und die Probleme der Gesundheitsversorgung könnten ebenso wie die weltweite Ernährungskrise unter diesem Blickwinkel neu gedacht werden. In unserem Fall würde das heißen, die Ermöglichung eines gesunden Lebens und der Zugang zu ärztlicher Versorgung ist nicht ein Recht von einzelnen Individuen, sondern das gute und gesunde Leben aller ist ein common, das durch die kollektive Tätigkeit aller hergestellt werden muss. Das Maß der tatsächlichen Erreichung dieses Ziels muss das Maß für den wirtschaftlichen Erfolg sein, nicht die Aktienkurse von Versicherungen und Pharmafirmen.
Bleibt noch die Frage der Übersetzung ins Deutsche. Der Begriff „Gemeingüter“, der sich in Deutschland durchzusetzen beginnt, ist meiner Meinung nach nicht geeignet, die Komplexität des Begriffs „commons“ als wirtschaftliches Paradigma abzudecken, deshalb bleibe ich vorerst beim englischen Begriff. Eher schon scheint mir, dass das Konzept „Solidarischer Ökonomie“ der Idee des „commonings“ entspricht, weil es ähnliche Sichtweisen von Eigentum, Produktion, Konsum und Regulierung beinhaltent. Aber vielleicht brauchen wir angesichts der globalen Bedeutung der commons ja gar keinen deutschen Begriff?
>“Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut? Diese Parole hat sich längst als falsch herausgestellt!“
Der Meinung, dass diese Parole falsch ist, sind Du und ich und eine Menge andere Leute sicher auch, aber sie ist m.E. sehr dominant, oder ist das nur meine Wahrnehmung? Mir scheint es, als ob sich diese Meinung sogar ausbreitet und dabei verstärkt den Anspruch erhebt, Realität zu beschreiben.
„Was uns die Beschäftigung mit commons heute bringt ist, dass wir Denkmuster jenseits der kapitalistischen Wirtschaftsform entwickeln können.“
Was mir auffällt ist, dass Commons aber durchaus mit momentanen Grundwerten des Kapitalismus kompatibel sind. Die Idee: „Nur wer arbeitet, soll auch etwas bekommen“ scheint mir z.B. in der Commonsdebatte in Form des Trittbrettfahrerproblems aufzutauchen.
Und generell scheint mir, dass die Commonsdebatte sehr von rational choice Vorstellungen geprägt ist, z.B. vom Menschenbild des homo oeconomicus auf dem ja auch Ostrom aufbaut. Letztlich geht es bei den Commons auch oft um die Frage: Wie wirtschaften wir, damit es uns gut geht? Das ist ja keine schlechte Frage, nur wird m.E. dabei völlig verschleiert, dass 1.) „gut gehen“ ein subjektiver Begriff ist und 2.) Wirtschaften, dass gut für mich und meine Community ist, den anderen total das Leben vermiesen kann. “
Was dem einen sein Uhl, ist dem anderen sein Nachtigall“ hat mein Opa immer gesagt. Oder um auf die Diskussion mit der staatlichen Krankenversicherung in den USA zurückzukommen: der Mangel an Commons der Einen (keine staatliche Krankenversicherung) ist ein Common für die Anderen (höhere Gewinne und sichere Arbeitsplätze der Mitarbeiter der Pharmakonzerne).
Schön finde ich, dass, wie Du schreibst, Linebaugh mit den Menschenrechten operiert. Genau diese könnten der Commonsdebatte argumentative Schützenhilfe geben. Die Menschenrechte könnten Maßstab dafür sein, welche Commons nötig sind.
Andererseits: eigentlich bräuchte man für die Menschenrechte keine Commons. Diese Menschenrechte sollten ja jedem Menschen zustehen. Oder ist das Bestehen auf den Menschenrechten und deren Einklagen nur möglich, wenn sich Menschen zur Gemeinschaft zusammenschließen und dabei quasi juristisches Commoning betreiben?
mmm… ich hoffe, meine Kommentare sind einigermaßen verständlich. Naja, diese ganzen Commons-Begriffe und Ideen, sind alle noch nicht so gut eingetreten. Rational Choice und Neoliberalismus lassen sich da m.E. etwas einfacher denken und verstehen. Meine Denkmuster und mein Reden sind ja schließlich auch schon seit ein paar Jahren durch gewisse kapitalistische und liberale Konkurse geprägt. (Blöder Kopf 😉
Okay, vielen Dank Brigitte für Deinen Bericht.
danke, Torsten, für deine Anmerkungen.
Ja, das ist alles nicht so einfach und auch die commons werfen viele Fragen auf. Ich wollte nur was richtig stellen, weil das offensichtlich missverständlich war: Linebaugh argumentiert nicht mit Menschenrechten, die sind ja viel jünger. Bei ihm geht es um die grundsätzlichen bürgerlichen Freiheitsrechte. Der Vergleich mit den Menschenrechten ist von mir, ich wollte damit sagen, dass wir heute z.B. Menschenrechte (neben vielen anderen Dingen) als commons behandlen könnten und diese – genau so wie damals die Nutzung der Wälder – nicht einzelnen Personen sozusagen als „Privateigentum“ zuteilen, sondern dass für ihre Realisierung und Erhaltung kollektives Handeln notwendig ist.
Dass utilitaristische und „rationale“ Denkweisen unserem Hirn leichter fallen, liegt, denk ich, daran, dass wir es so gelernt haben und eben in dieser Welt leben und wissen, wie sie funktioniert. Für die Leute die die Charter of the forest geschrieben haben, war es wahrscheinlich genau umgekehrt. Für sie wäre es vielleicht ziemlich schwierig gewesen sich vorzustellen, wie das funktionieren soll, wenn sich alle alles am freien Markt besorgen sollen 😉