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Kapitalismus und Freiheit sind nicht das Gleiche

Das zumindest ist die Erkenntnis 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, des Eisernen Vorhangs und dem Fall der Berliner Mauer. Ich bin ein bissl spät dran mit Zeitunglesen, weil ich lange unterwegs war, deshalb hab ich mir erst heute beim Frühstück den Standard vom Wochenende vorgenommen – mit einem Schwerpunkt mit dem bezeichnenden Titel „1989 – 2014: die neue Unordnung“. Und auf der Titelseite die Überschrift „Ende des Ostblocks hat Österreich kaum genützt“. Seltsame Feststellung – wieso hätte es Österreich nützen sollen?

Ich denke nicht, dass die Menschen, die sich in Leipzig an den Montagsdemonstrationen beteiligten oder die Soldaten, die an der ungarisch-österreichischen Grenze den Stacheldraht durchschnitten, dabei den Nutzen Österreichs im Auge hatten. War da nicht noch etwas anderes, um das es gehen sollte? Freiheit, Wohlstand, Demokratie? Wäre es so gekommen, wäre das wohl Nutzen genug gewesen, Österreich stand dabei soweit ich mich erinnere nicht zur Diskussion. Aber, vielleicht gibt’s ihn ja sogar den Nutzen? Immerhin bin ich vor zwei Wochen durch Brandenburg und Sachsen-Anhalt geradelt, habe viele interessante Projekte gesehen und ohne den Fall der Mauer hätte ich einige Freunde und Freundinnen weniger. Ist das Nutzen genug?

Aber natürlich, ich bin nicht Österreich. Und dieser Nutzen war gar nicht gemeint, merkte ich schnell. Es ging nur darum, welche Wirtschaftssektoren daran Gewinne machen konnten. Haushalts- und Pflegedienste rangieren weit oben, die Prostitution auch (ich wusste gar nicht, dass die als eigener Wirtschaftssektor zählt), die Banken interessanterweise nur im Mittelfeld, deren Rechnung ist wohl nicht ganz aufgegangen.

In der Zeitung stand auch ein Zitat vom „Wendekanzler“ Helmut Kohl: „Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und arbeiten lohnt“. Die Anstrengungen unternahmen dann hauptsächlich die Investoren, der große Ausverkauf war angesagt. Dass das den Menschen dort nicht viel bringen würde, war von Anfang an klar, dass es für die Banken auch kein so guter Deal war, zeigte sich erst in den letzten Jahren. Die österreichischen Banken zumindest brauchen jede Menge Steuergeld, um ihre Verluste in Osteuropa zu verkraften. Es stimmt schon, viele Menschen hinter dem Eisernen Vorhang hielten den Kapitalismus für das Paradies, daher gab es auch wenig Widerstand. Investoren wurden als Heilsbringer angesehen, das Heil brachten sie wohl hauptsächlich für sich selbst, denn sie suchten sich natürlich die Filetstücke heraus und ließen dann fallen, was zuwenig Profit brachte.

Arbeitslosigkeit, Abwanderung, schrumpfende Städte, verfallende Industrieanlagen, eine Zunahme rechtsextremer Bewegungen, das sind die Folgen, wenn man dem Markt so richtig seine Freiheit lässt. So hatten sich die Menschen das damals wohl nicht vorgestellt. Die blühenden Landschaften – im wörtlichen Sinn – die gibt es allerdings wirklich, ich habe sie gesehen. Die waren für die Investoren nicht interessant genug. Und die schrumpfende Wirtschaft hat auch viele Freiräume hinterlassen, um selbst aktiv zu werden. Aber, wer nutzt heute diese Freiräume?

Es war einer der großen Diskussionspunkte auf unserer Radtour: in fast allen Projekten, die wir besuchten, sind fast ausschließlich Menschen aus dem Westen aktiv. Sie nutzen die Möglichkeit, billige Immobilien zu erwerben – eine weitere Form von Landnahme? Natürlich gibt es Ausnahmen. Etwa Christine und Veit vom Projekt Land.Leben.Kunst.Werk in Quetzdölsdorf (ja, das gibt es wirkich) oder Burkhardt in der Region um Bechstedt, wo die Commons-Sommerschule stattfindet. Sie schaffen es, ihre Region mit den Menschen die dort wohnen gemeinsam zu beleben. Trotzdem scheint der Ausverkauf noch nicht vorbei zu sein.

Während unserer Radtour wurde in den Nachrichten eine Studie vorgestellt, in der vorgeschlagen wurde, den Wert einer Region nicht nur finanziell zu bemessen, sondern nach ihrem Potenzial. Im Grunde eine wunderbare Idee – nur bin ich mir nicht sicher, wer damit angesprochen werden soll. Wieder die Investoren, damit sie doch noch einmal überlegen, wie sie dieses Potenzial für ihren Profit nutzen könnten? Oder wieder die Menschen aus dem Westen, die nach billigen Immobilien für ihre Projekte suchen? Es ist zu hoffen, dass die Menschen im ehemaligen Osten Deutschlands trotz uneingelöster Versprechen von Politik und Marktwirtschaft ihren eigenen Weg finden. Ob sie dafür Studien brauchen und Argumente, mit denen man ihre Regionen anpreisen könnte, weiß ich nicht. Die Menschen in vielen anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks haben jedenfalls nicht einmal das, die kämpfen oft ums nackte Überleben. Nach 25 Jahren ist von der Euphorie nichts mehr übrig, das Ende der Geschichte abgesagt und die geopolitische Situation unübersichtlicher denn je.