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Geschichten von der Alm

Bisher war ich noch nie in Osttirol, obwohl ich dort eigentlich schon lange hin wollte. Dann hab ich in einem Buch von Andreas Weber über das Villgratental gelesen – als positives Beispiel dafür, wie Menschen mit dem, was sie vor Ort haben, ein gutes Leben leben können, ohne sich dem Diktat der Tourismusindustrie oder sonstigen Modernisierungstendenzen um jeden Preis zu unterwerfen. Das hat den Ausschlag dafür gegeben, dass meine Urlaubswahl dieses Jahr auf dieses Gebiet fiel. Hauptsächlich zum Wandern, aber auch weil es mich interessierte, wie Menschen unter solchen extremen Bedingungen leben. Außervillgraten liegt 1286m hoch, die anderen Orte noch höher, der höchste dauerhaft bewohnte und bewirtschaftete Hof liegt über 1800m. Da liegen bei uns manchmal die Almen niedriger.

Außervillgraten

Und die Hänge sind so steil, dass, wenn überhaupt, nur kleine Maschinen, wie Motorsensen, bestenfalls Balkenmäher, zum Einsatz kommen können. Viele Menschen sah ich mit der Hand mähen und vor allem heuen. Die letzte warme Augustwoche wurde zum Einbringen des zweiten Heus genutzt. Neben der Viehzucht sind es vor allem Holzverarbeitung und Fremdenverkehr, von denen die Menschen leben. Die Zugeständnisse an den Tourismus halten sich jedoch in Grenzen. Es gibt keine Lifte, keine Nobelunterkünfte, keine Diskotheken oder sonstigen Freizeiteinrichtungen, dafür romantische Almen und eben die imposanten Bauernhöfe hoch oben an den steilen Hängen,

Almhütten, die man mieten kann und Gipfel bis fast 3000m. Ein ruhiges Urlaubsdomizil, wie man es heute nur mehr selten findet.

Oberstaller Alm

Kraftwerke Villgraten

Und es gibt die Schafe – seit Josef Schett vor etlichen Jahren damit begonnen hat, von Milchkühen auf die genügsameren und weniger arbeitsintensiven Tiere umzusteigen und darauf ein ganzes Unternehmen aufgebaut hat. Die Verarbeitung von Schafprodukten verschafft mehreren Menschen im Tal Ein- und Auskommen und die Produkte (Dämmmaterialien, Matratzen, Kissen, Bettdecken, Kleidung, Spielsachen, Kosmetik, Schafskäse und auch Holzprodukte) werden nicht nur im Laden „Villgrater Natur“ in Innervillgraten verkauft, sondern auch in andere Länder exportiert. Villgrater Natur ist einer von sechs Betrieben im Tal, die sich unter dem Namen „Kraftwerke Villgraten“ zusammengeschlossen haben. Hier wird kein Strom erzeugt, sondern eher (Über-)Lebenskraft, Resilienz. Der Wurzerhof gehört auch dazu – siehe unten – oder die Bekleidungsfirma Mühlmann, Mode made in the alps, in Außervillgraten, direkt neben meiner Pension. Ziemlich schicke Jacken zum Beispiel werden dort direkt vor Ort genäht. Gute Beispiele erfolgreichen regionalen Wirtschaftens, wo aus den lokalen Ressourcen das Beste gemacht wird. Trotzdem ist nicht alles eitel Wonne.

Der Sohn meiner Zimmervermieterin hat eine Tischlerei, seine Kinder studieren in Innsbruck und werden sicher nicht im Tal bleiben. Das ist halt so, meint die alte Frau, man kann sie nicht zwingen. Ähnlich ist es mit den Bauernhöfen, sie werden fast ausnahmslos von alten Menschen bewirtschaftet. Niemand übernimmt heute eine Landwirtschaft, die so viel Anstrengung erfordert und ihren Mann oder ihre Frau trotzdem nicht ernähren kann. Nun könnte man sagen, das ist eben der Lauf der Zeit und vielleicht macht es auch keinen Sinn, solche Dinge künstlich am Leben zu erhalten. Das Problem ist, diese Art der Landwirtschaft geht einher mit einer ausgedehnten Almwirtschaft. Und diese Almen als einzigartige Kulturlandschaft sind es, die einen wesentlichen Reiz des Tales auch für Touristen ausmachen. Hier geht also mehr verloren als ein wenig einträglicher Erwerbszweig. Und es reicht eben auch nicht, wenn die Häuser für touristische Zwecke weiter genutzt werden, weil die spezifisch Kulturlandschaft trotzdem verschwinden würde, wenn die Landwirtschaft weg ist. Die Almen wurden und werden übrigens von mehreren Bauern gemeinsam genutzt, teilweise sogar grenzüberschreitend, Italien ist gleich um die Ecke sozusagen. Es gibt einen genauen Weideplan, damit in dem kargen, stark gegliederten Gelände alle zufriedengestellt werden und sich niemand benachteiligt fühlt. Seine Einhaltung wird von einem dafür gewählten erfahrenen Bauern angeleitet. Garrett Hardin hätte hier einiges über Commons lernen können.

Schattenseiten

Die Abgeschlossenheit des Tales hat aber auch ihre Schattenseiten, sie fördert auch autoritäres Verhalten und Machtstrukturen, wo einige wenige alteingesessene Familien sagen wo es lang geht. Dafür steht z.B. diese Geschichte. Sie handelt von Wilderern, die es hier wohl noch immer gibt und davon, dass einer von ihnen von Jägern erschossen wurde – unabsichtlich sagen die einen, es war Mord, sagen die anderen. Familienfehden, die wohl Generationen zurückgehen, leben dort weiter, wie in anderen abgeschlossenen Gesellschaften auch. Ob die Wilderer nun wirklich ihr Recht auf das „Gemeingut“ Wild geltend machen wollen, oder nur dem verhassten Jäger, der möglicherweise der „falschen“ Familie angehört, eins auswischen, wer weiß. Das kann man als Außenstehende ohnehin nicht durchschauen. Überhaupt schießen die Männer da recht gern, in meiner Pension etwa gab es eine ganze Vitrine mit verschiedenen Gewehrpatronen – eine Sammlung, die der Mann der Zimmervermieterin, ein passionierter Jäger, angelegt hatte und die ich ziemlich makaber fand.

Zu diesen Schattenseiten gehört auch, dass in Kalkstein, ganz drinnen im Tal, ein Kruckenkreuz, das Zeichen des Austrofaschismus, zu finden ist und als einziger Kommentar dort zu lesen ist, dass dieses den zweiten Weltkrieg überdauern konnte. So ein Glück aber auch?!

In einem Buch über Natur und Kultur in Gsies und Villgraten, wo dieses zweifelhafte Kulturdenkmal natürlich nicht fehlen darf, eiert der Verfasser zwei Seiten lang um das Thema herum, ohne zu einer klaren Stellungnahme zu finden. Sein Zugang: wir sollten nicht über unsere Vorfahren urteilen, weil wir doch alle Fehler machten. Und das lässt sich auch aus der Bibel begründen: „wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!“ (Religion – katholische versteht sich, wir sind in Tirol – ist hier auch sehr wichtig, dass sich zur Reformationszeit damals auch einige Villgratner zum Abfall vom richtigen Glauben verleiten ließen, hat man, scheint es, auch noch nicht so richtig verwunden.) So geht’s dann doch nicht, soviel Verdrängung und Verleugnung der Realität lässt sich auch mit Abgeschiedenheit nicht entschuldigen. Aber nun wieder zu den netteren Seiten des Tales.

Der Wurzerhof

Der Wurzerhof ist der älteste Hof des Tales. Er besteht neben dem Hofgebäude, in dem es auch eine Schmiede und ein Brotbackofen gibt, noch aus einer Kapelle, einer Mühle, einem Selch- und Waschhaus (es erfüllt tatsächlich ein gemauertes Häuschen diese beiden schwer zu vereinbarenden Funktionen. Die Vermutung ist, dass geselcht eben nur im Winter, rund um Weihnachten, wurde, und da konnte man dort am Brunnen sowieso nicht waschen), einer eigenen Säge, die derzeit noch renoviert wird, und 275 ha Land. Das klingt auf den ersten Blick riesengroß. Allerdings liegt er auf 1400 m Seehöhe, 140 ha davon sind Almgebiet bis hinauf in die felsige Gipfelregion. Nur 9 ha sind Grasland, das gemäht wird, der Rest ist – ebenfalls sehr steiler – Wald.

Wurzerhof

Auch dieser Bauer hat von Kühen auf Schafe und Pferde, bevorzugt alte Rassen, umgestellt, die im Sommer auf der Alm sind. Der Hof ist ein Demeterhof, das heißt, er betreibt biologisch-dynamische Landwirtschaft. Was mich nicht nur am Wurzerhof, sondern auch an anderen Stellen überrascht hat, waren die üppigen Bauerngärten, die in dieser Höhe gedeihen. Die südliche und durch die Berge doch ein wenig geschützte Lage macht anscheinend doch einiges möglich.

Bauerngarten

Die schweren Überschwemmungen im Juli haben allerdings auch das Villgratental getroffen. Der Bach hat viel Geröll vom Berg heruntergeschwemmt und die Straße und das Hofgelände fast bis zum Haus überflutet. Seither ist der Bachlauf um etwa 1,5m tiefer als zuvor und die Wasserzuleitung für die Mühle hängt sozusagen in der Luft und muss erst neu gebaut werden. Daher konnten wir die Mühle nicht in Betrieb sehen.

Der Großteil des Hauses wird als Selbstversorger-Ferienwohnungen vermietet, inklusive uriger, händisch zu bedienender Kegelbahn. Gemeinsam mit einem Verein, der sich um den Erhalt des lokalen Kulturerbes bemüht, wurde in dem Haus ein Museum eingerichtet. Die Frau, die uns geführt hat, ist übrigens im selben obersteirischen Dorf geboren und aufgewachsen wie ich! Mit der Landwirtschaft, dem Museum und der Vermietung hat die Familie drei Standbeine, die ihr ein Überleben ermöglichen. Was allerdings nicht immer einfach ist: was für die Zimmervermietung vorgeschrieben ist, wird von der Landwirtschaftskammer abgelehnt oder durch den Denkmalschutz behindert und umgekehrt. Hier zeigt sich wie überall in Regionen, wo das Überleben schwierig ist: kreativen Menschen, die es trotzdem versuchen, werden häufig bürokratische Hürden in den Weg gelegt, weil verschiedene Behörden nicht miteinander kommunizieren, noch viel weniger kooperieren. Selbstorganisation und Eigeninitiative brauchen gesetzlich abgesicherte Freiräume, die gerade in hierarchisch-konservativ organisierten Systemen oft schwer zu bekommen sind.

Die Almmilch

Viele Almen hier sind noch „richtig“ bewirtschaftet, das heißt, es gibt hier noch Milchkühe und Senner oder Sennerinnen die auch melken und Butter machen und Milch und Butterbrot auch an Wanderer verkaufen. In so einer Alm, erzählte ein oberösterreichisches Ehepaar in meiner Pension, seien sie vor einigen Jahren gewesen und hätten sich sehr über die freundliche Bewirtung gefreut. Im nächsten Jahr ist ihnen beim Aufstieg der alte Bauer mit seinem Moped begegnet. Er war unterwegs ins Tal, um bei der Heuarbeit zu helfen. Dann bekommen wir heute keine Milch?, fragten die beiden. Oh doch, meinte er, die Kanne steht im Brunntrog, die Hütte ist offen, da sind auch Häferl drin, ihr könnt euch selber nehmen. Die beiden sind der Aufforderung gerne nachgekommen und, wir haben ihm halt ein paar Euro dagelassen, meinte die Frau. Selbstbedienung der traditionellen Art!

Über die Jöcher

Ein Tourismusangebot wird gemeinsam mit dem benachbarten Gsiesertal in Südtirol durchgeführt, ein von der EU gefördertes Interreg Projekt: Es gibt Themenwanderwege über die Jöcher zwischen den Tälern, die gut markiert und mit Infotafeln versehen sind.

Und zweimal die Woche gibt es Busse, die die Wanderer abends wieder ins Ausgangstal zurück bringen. Um Schmuggler geht es hier, um die Alm- und Holzwirtschaft früher und heute und um traditionelles Handwerk. So sehr viel, so scheint es manchmal, hat sich gar nicht geändert. Nur die kleinen Hütten für die Schäfer, die überall auf den Almwiesen anzutreffen sind, stehen leer, die ersetzen heute elektrische Weidezäune. Aber die Heuarbeit hat sich wenig geändert, es werden auch noch die alten Vorrichtungen zum Trocknen verwendet,

Schwedenreiter

nur auf den flacheren Wiesen kann das Heu, wie heute üblich, mit den entsprechenden Maschinen in Plastikballen gewickelt und darin siliert werden. Die vielen Mühlen an den Bächen wurden meist auch von mehreren Bauern gemeinsam betrieben. Bis vor dem zweiten Weltkrieg wurde hier noch Getreide angebaut, das hat aufgehört. Die Frau vom Wurzerhof möchte es gerne wieder versuchen. Die Wanderungen sind aber auch unabhängig von den thematischen Informationen wunderschön und sehr empfehlenswert, eine führt zum Beispiel von der Unterstalleralm über den Schwarzsee.

Schwarzsee

Franui zu Franui

Und dann war da als krönender Abschluss des Bergsommers das Konzert. In der Gruppe Franui spielen mehrere Musiker/innen aus dem Villgratental und der Name leitet sich von einer Almwiese in 2300m Höhe ab. Diese Gruppe feiert heuer ihren 20. Geburtstag und einige Leute hatten die Idee, dass aus diesem Anlass ein Konzert auf dieser Almwiese stattfinden sollte und sie haben diese Idee mit großer Energie und in Kooperation mit allen örtlichen Vereinen, den Gemeinden und der Raiffeisenkasse (Ehre, wem Ehre gebührt 😉 ) umgesetzt. Es gibt auf dieser Wiese genau nichts und sie ist nur durch eine zweistündige Wanderung zu erreichen. Trotzdem wurden über 1000 Karten verkauft. Mit dem Hubschrauber wurden 2 Dieselgeneratoren auf die Alm geflogen, ebenso die Bühnenkonstruktion, die Tonanlage, das Baumaterial für eine behelfsmäßige Hütte und Speisen und Getränke. Es fuhren den ganzen Tag über Shuttle-Busse, die die Zuschauer von allen umliegenden Orten zum Ausgangspunkt der Wanderung und am Abend wieder zurück hinaus brachten.

Für den Tag, an dem das Konzert stattfinden sollte, waren nachmittags Gewitter angesagt und das ganze Tal zitterte mit. Als ich zwei Tage vorher im Tourismusbüro war, um meine Karte zu kaufen und danach fragte, was denn bei Schlechtwetter passieren würde, wurde mir versichert, das Wetter werde schön sein. Es seien fünf Wetterexperten da gewesen und die hätten beschlossen, dass das Gewitter erst später kommen würde ;). Beim letzten Stück des Aufstiegs umschwirrte uns plötzlich eine ferngesteuerte Drohne mit Kamera.

Der logistische und technische Aufwand war enorm, das Wetter machte es jedoch spannend bis zum letzten Augenblick. Ein Gewitter auf einer Alm in dieser Höhe, dem 1000 Menschen schutzlos ausgeliefert gewesen wären, die dann alle über den steilen, glitschigen Hang absteigen hätten müssen, wäre wirklich das Horrorszenario jeden Bergretters gewesen. Um zwei Uhr sahen die Wolken schon ziemlich bedrohlich aus. Um halb drei begann das Konzert, eine halbe Stunde früher als geplant.

Franui zu Franui

Dann kam die Sonne wieder heraus und das schöne Wetter hielt an, bis alle wieder im Tal waren. Bei der Heimfahrt im Bus begann es zu regnen und dann wurde das Wetter auch richtig schlecht, auch für die nächsten Tage. Die Wetterexperten haben offenbar ganze Arbeit geleistet :).

Das Konzert war ein großartiges Erlebnis, der technische Aufwand und die damit verbundenen Kosten wurden von manchen auch kritisiert. Natürlich ist das Ganze ambivalent, aber ich denke, als einmaliges Ereignis ist so etwas schon zu verantworten, solche Erfahrungen können auch motivieren und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken und schließlich macht es auch keinen Sinn, Menschen von der technischen Entwicklung ganz abzukoppeln und eine Region sozusagen unter einen Glassturz zu stellen. Als Dauereinrichtung wäre es auf keinen Fall wünschenswert, daran ist aber, soweit ich es beurteilen kann, ohnehin nicht gedacht. So wird es vielen Menschen als Highlight in Erinnerung bleiben, als Beispiel dafür, was durch Kreativität, Zusammenarbeit und eine ausreichende Portion Hartnäckigkeit möglich ist. Vielleicht auch typisch villgratnerisch?